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könnte, was an dem Kreuze gesprochen wurde, ohne selbst
gesehen zu werden. Mehrere Weidenstümpfe standen in
der Nähe; sie neigten sich teilweise, vom Alter gebeugt,
bis fast zur Erde, grünten aber alljährlich im Frühjahr
von neuem, um im Herbste ihrer schlanken und biegsamen
Ruten beraubt zu werden, die zum Flechten von Körben,
Fischreusen und ähnlichen Dingen verwendet wurden. Mit
prüfendem Auge beobachtete und untersuchte der Müller
jeden einzelnen dieser altersgrauen Stämme, und ein
häßliches Grinsen, daß über sein pockennarbiges Gesicht
zog, ließ erkennen, daß er gefunden hatte, was er suchte.
Einer der Bäume, und zwar gerade derjenige, der dem
Kreuze am nächsten stand, war inwendig hohl, und der
Müller konnte bequem von oben in denselben hinein¬
kriechen, so daß er völlig darin verschwand. Wahrlich,
ein Versteck, wie er es besser und passender gar nicht
wünschen konnte. Obendrein hatte der hohle Stamm
etwa in Manneshvhe ein Astloch, woran er mit einiger
Mühe, wenn er sich, in dem hohlen Baume stehend, auf
den Zehen emporrichtete, das Ohr legen konnte, unb als¬
dann konnte ihm kaum ein Wort von bent entgehen, was
an bem Kreuze gesprochen würbe. Das Herausklettern
war freilich mit etwas Schwierigkeit verbnnben; aber mit
einiger Mühe gelang ihm auch biefes, unb froh über
feine Entbeckung ging ber Müller, ehe bie Sonne aufging,
wieber nach Haufe zurück.
Zur festgesetzten Stunde fanb sich am fotgenbcn
Dienstagnachmittag Jan Östrik an betn Kreuze ein.
Seinem Weibe hatte er vorher noch gesagt, wer bie ge¬
heimnisvolle Frembe fei, die ihn zu diesem Stelldichein
an dem Kreuze bestellt hatte; gleichsam aber zur Be¬
ruhigung hatte er ihr gesagt, daß Mechtildis beabsichtige,
den Schleier zn nehmen, und daß dieses jedenfalls die
letzte Begegnung fein werde. Nur ungern ließ Irmgard
den Gemahl gehen. „Ich wollte, Du bliebest hier,
Johann," sagte sie; „es ahnt mir, daß diese heutige Be¬
gegnung Dir verhängnisvoll wird. Es ist das Beste,
wenn alle Brücken, die Dich mit der Vergangenheit ver-