Object: (Prosa) (Teil VII - IX in 1 Bande, [Schülerband])

zweite geht, fand nun eine wissenschaftliche Motivierung. Dem Athener 
alten Schlages war die Rechtsordnung seines Staates, die tatsächlich 
etwas Neues und Imposantes war, einfach die reale Erscheinungsform 
der göttlichen Dike (Recht und Gesetz); in der großen Zeit der Demo¬ 
kratie lebte und starb der attische Bürger für den Satz, daß, was 
die Gesetze geboten, gerecht sei. Die Aufklärung hingegen war eine 
echte Tochter der weltumspannenden ionischen Wissenschaft, die erkannt 
hatte, daß alle von Menschen geprägten Werte relativ sind, und Be¬ 
weise in Hülle und Fülle dafür besaß, daß der Begriff des Rechts 
bei verschiedenen Völkern und unter verschiedenen natürlichen und histo¬ 
rischen Bedingungen verschieden ist und sein muß, auf göttliche Un¬ 
wandelbarkeit und Unsterblichkeit also keinen Anspruch hat. In einem 
Großstaat mit kräftiger auswärtiger Politik und in einer dem Ehrgeiz 
des einzelnen weilen Spielraum gewährenden Demokratie muß die Er¬ 
kenntnis, daß zum Recht Macht gehört, einer kritischen Aufklärung, der 
die sittlichen Werte relativ sind oder zu werden drohen, sich bald zu 
der Lehre vom Recht des Stärkeren umsehen, mag sie nun die be¬ 
stehende Ordnung als ein Werk der herrschenden Klasse auffassen oder 
das Recht des intellektuell und durch den Willen Stärkeren, des Über¬ 
menschen, wie man jetzt sagt, auf die Herrschaft predigen. 
In der Weise ließe sich noch viel dafür anführen, daß die ratio¬ 
nalistische Aufklärung, die ein moralisches Wissen postulierte und ein 
politisches Wissen lehrte, das keines war, die Grundlagen der Ethik 
schwer erschütterte, und das in einer Zeit, in welcher der attische Staat, 
der Schauplatz, auf dem sich die Tugend des Atheners allein bewähren 
konnte, an äußeren und inneren Krisen zugrunde ging. Das Merk¬ 
würdige ist nun, daß Sokrates diesen Rationalismus der Aufklärung 
durch seinen Rationalismus übertrumpft. Er weist ebenso unerbittlich 
den gefeierten Sophisten nach, daß ihre Weisheit voller Widersprüche 
ist, wie er den Unklarheiten im ethischen Denken seiner eigenen Mit¬ 
bürger zu Leibe geht: „Ihr wißt alle nichts," war immer das Endresultat 
seiner Katechesen. „Aber ihr müßt wissen, was euch frommt, wenn es 
euch nicht schlecht gehen soll; wie jeder Handwerker sein Gewerbe lernen 
und verstehen muß, wenn er nicht ein närrischer Tropf sein will, so 
müßt ihr wissen, wie ihr zu leben und euch zu führen habt, wenn ihr 
nicht fehlen wollt." So seht sich seinem Rationalismus das Rühmen 
der Aufklärung um in ein sittliches Postulat. Das ist mehr als logische 
Dialektik und nüchtern verständige Kritik hervorbringen können: hier
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.