zweite geht, fand nun eine wissenschaftliche Motivierung. Dem Athener
alten Schlages war die Rechtsordnung seines Staates, die tatsächlich
etwas Neues und Imposantes war, einfach die reale Erscheinungsform
der göttlichen Dike (Recht und Gesetz); in der großen Zeit der Demo¬
kratie lebte und starb der attische Bürger für den Satz, daß, was
die Gesetze geboten, gerecht sei. Die Aufklärung hingegen war eine
echte Tochter der weltumspannenden ionischen Wissenschaft, die erkannt
hatte, daß alle von Menschen geprägten Werte relativ sind, und Be¬
weise in Hülle und Fülle dafür besaß, daß der Begriff des Rechts
bei verschiedenen Völkern und unter verschiedenen natürlichen und histo¬
rischen Bedingungen verschieden ist und sein muß, auf göttliche Un¬
wandelbarkeit und Unsterblichkeit also keinen Anspruch hat. In einem
Großstaat mit kräftiger auswärtiger Politik und in einer dem Ehrgeiz
des einzelnen weilen Spielraum gewährenden Demokratie muß die Er¬
kenntnis, daß zum Recht Macht gehört, einer kritischen Aufklärung, der
die sittlichen Werte relativ sind oder zu werden drohen, sich bald zu
der Lehre vom Recht des Stärkeren umsehen, mag sie nun die be¬
stehende Ordnung als ein Werk der herrschenden Klasse auffassen oder
das Recht des intellektuell und durch den Willen Stärkeren, des Über¬
menschen, wie man jetzt sagt, auf die Herrschaft predigen.
In der Weise ließe sich noch viel dafür anführen, daß die ratio¬
nalistische Aufklärung, die ein moralisches Wissen postulierte und ein
politisches Wissen lehrte, das keines war, die Grundlagen der Ethik
schwer erschütterte, und das in einer Zeit, in welcher der attische Staat,
der Schauplatz, auf dem sich die Tugend des Atheners allein bewähren
konnte, an äußeren und inneren Krisen zugrunde ging. Das Merk¬
würdige ist nun, daß Sokrates diesen Rationalismus der Aufklärung
durch seinen Rationalismus übertrumpft. Er weist ebenso unerbittlich
den gefeierten Sophisten nach, daß ihre Weisheit voller Widersprüche
ist, wie er den Unklarheiten im ethischen Denken seiner eigenen Mit¬
bürger zu Leibe geht: „Ihr wißt alle nichts," war immer das Endresultat
seiner Katechesen. „Aber ihr müßt wissen, was euch frommt, wenn es
euch nicht schlecht gehen soll; wie jeder Handwerker sein Gewerbe lernen
und verstehen muß, wenn er nicht ein närrischer Tropf sein will, so
müßt ihr wissen, wie ihr zu leben und euch zu führen habt, wenn ihr
nicht fehlen wollt." So seht sich seinem Rationalismus das Rühmen
der Aufklärung um in ein sittliches Postulat. Das ist mehr als logische
Dialektik und nüchtern verständige Kritik hervorbringen können: hier