54. Napoleons Zug nach Rußland. 1812.
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Feuerschlünde an uns vorüber fuhren, da bemächtigte sich eine stille
Ehrfurcht unsrer aller Herzen vor dem Manne, auf dessen Wink diese
Tausende von Kriegern sich in Schlacht und Tod, in alle Mühselig¬
keiten eines gefahrvollen, langwierigen Feldzuges stürzten. . . . Wir
vergaßen, daß wir unter dem Besieger Deutschlands kämpften; wir
sahen in Napoleon den gewaltigen Helden des Jahrhunderts. . . .
Niemand von uns dachte daran, daß diese herrliche Armee in wenigen
Wochen ein Bild des Elends, der Auflösung und der Verwirrung
darbieten könnte. . . .
Schon während des ganzen Feldzuges hatte uns Deutsche das
Los getroffen, immer hinter der französischen Armee zu marschieren.
Auch von dem Schlachtfelde von Smolensk ab bildeten wir den
Nachtrab; jedoch folgten wir freudig. Bald sollte Moskau vor uns
liegen, Moskau, das Ziel aller unserer Gefahren und Mühen. Was
erwarteten wir nicht alles in Moskau, dieser alten ehrwürdigen Stadt
der Zaren? Die Kreuzfahrer im 12. Jahrhundert können sich nicht
so sehr nach dem Anblick von Jerusalem gesehnt haben, wie wir nach
dem von Moskau. . . .
In Dorogebusch sahen wir zum ersten Male während dieses
Feldzugcs den Kaiser Napoleon; er stand dicht vor dieser Stadt auf
einer kleinen Anhöhe neben der großen Straße, und wir marschierten
mit geschultertem Gewehr unter dem Rufe: „ Vive l’empereur!" an
ihm vorüber. . . . Die russischen Generale hielten noch nicht Stand,
und wir folgten noch immer der feindlichen Armee auf der Straße
nach Moskau. Unser Korps stand sich dabei sehr schlecht, weil es
das letzte war, und die russischen und französischen Truppen das
Wenige, was vielleicht an Nahrungsmitteln und dergleichen noch zu
erhalten gewesen wäre, immer im voraus genommen hatten. Wir
mußten uns daher mit Pferdefleisch begnügen, und so widrig uns
der Genuß desselben im Anfang auch war, so schätzten wir uns
später glücklich, wenn wir nur Pferde zu verzehren hatten und hielten
es für die größte Delikatesse, wenn die Tiere erst frisch gefallen und
bei der großen Hitze noch nicht in Verwesung übergegangen waren. . . .
Fouragier-Kommandos kamen gewöhnlich leer zurück oder hatten die
Flucht nehmen müssen. Zwei kamen überhaupt nicht wieder; sie
waren von russischen Bauern erschlagen. ... Es war hohe Zeit,
daß wir bei der großen französischen Armee anlangten. Mutlosigkeit
und Unlust bemächtigten sich vieler Soldaten, und sie murrten, wünschten
ihren Tod herbei und verfluchten das tolle Unternehmen, eine leere
Wüste erobern zu wollen. . . .
Wir kamen endlich am 6. September des Abends spät im
Säger von Borodino an und mußten durch das ganze Lager der
großen Armee marschieren, weil wir, wie es unter Napoleon immer
das Los der Deutschen war, den ersten Angriff machen sollten, wenn
es zur Schlacht käme. Überall brannten schon die Wachtfeuer,