von Sicilien hinüber. Er hatte Speisen, einen großen ledernen Schlauch
Wein und zwölf erlesene Gefährten mitgenommen. Diese banden gleich nach
der Landung das Schiff in einer versteckten Bucht fest, nahmen den Wein—
schlauch und die Speisen heraus und gingen landeinwärts. Sie fanden das
Land nicht von Menschen bewohnt, sondern von Riesen, die nur ein Auge
und das mitten auf der Stirne hatten, nichts von Acker- und Gartenbau
wußten, keine Städte, keine Gesetze, keine Volksversammlungen kannten, sondern
von denen jeder für sich in einer Höhle lebte und am Tage auf den Bergen
seine zahlreichen Herden weidete. Cyklopen nannte sich diese furchtbare Riesenart.
Odysseus kam mit seinen Gefährten gerade an die Höhle des furchtbarsten
dieser Unholde, der eben nicht zu Hause war. Sie fanden in derselben eine
gewaltige Menge Milch, Molken, Butter, Käse, Lämmer und Zicklein. Die
Gefährten hatten große Lust zum Käse und rieten dem Helden, einige Körbe
voll zu nehmen, ein Dutzend Lämmer vor sich herzutreiben und so wieder
abzusegeln; aber Odysseus verwarf den Vorschlag und wollte den Wirt ab—
warten. Bis dieser kam, opferten sie den Göttern und aßen ein paar Käse
dazu. Endlich erschien Polyphem, der große Cyklop, mit seiner Herde. Er
trug eine Ladung Brennholz, welches er in die Höhle mit solchem Geprassel
niederwarf, daß die Fremden vor Angst in alle Winkel flohen. Dann trieb
er die Schafe und Ziegen zum Melken in die Höhle und setzte vor den Ein—
gang einen Stein, so groß und schwer, daß die Gespanne von 22 starken
vierräderigen Wagen ihn nicht hätten fortziehen können.
Nun setzte er sich hin und begann seine Schafe und Ziegen zu melken.
Als er damit fertig war, zündete er ein Feuer an, das die ganze Höhle er—
hellte, und nun sah er die Fremdlinge dastehen. „Heda, wer seid ihr?“ rief
er; „Kaufleute oder Seeräuber?“ Die Gefährten zitterten vor der schreck⸗
lichen Stimme, aber Odysseus gab dem Cyklopen Bescheid, bat ihn um Be—
wirtung und um ein Gastgeschenk nach griechischer Sitte und erinnerte ihn
zugleich an Zeus, den Rächer der Fremden, welche vergebens um Hilfe flehten.
Der Cyklop wollte weder von der griechischen Sitte noch von Zeus etwas
wissen, und um ihm zu zeigen, daß er sich aus den Göttern nichts mache,
packte er sogleich zwei der Gefährten, schmetterte sie gegen die Felsenwand,
daß ihr Gehirn auf den Boden spritzte, riß sie in Stücke und aß sie zum
Abendbrote. Dazu trank er ein paar Eimer Milch und legte sich dann nieder
bei seinem Vieh, um zu schlafen. Jetzt stieg in Odysseus' zürnender Seele
der Gedanke auf, dem Ungeheuer das scharfe Schwert durchs Herz zu bohren;
allein wie hätte er dann aus der Höhle hinaus kommen wollen? Er erwartete
also lieber den Morgen und sah mit Entsetzen, wie Polyphem nach vollendeten
Hirtengeschäften abermals zwei seiner lieben Gefährten zermalmte und aß,
dann den großen Stein wegstieß, die Herde zur Höhle hinaustrieb und den
Stein wieder vorsetzte.
Die armen Gefangenen waren nun den ganzen Tag sich selbst überlassen
und sannen auf Entwürfe, dem Riesen zu entkommen. Endlich blieb Odysseus
bei folgendem Plane stehen. In der Höhle lag ein Olivenstamm, groß und
dick wie ein Mastbaum, den sich der Cyklop zur Keule dörren wollte. Von
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. III.