84 Matthias von Neuenburg: Die Geißelbrüder in Straßburg. 1349.
Menschen an, sich zu geißeln und das Land zu durchziehen. Im genannten
Jahre 1349 kamen Mitte Juni siebenhundert aus Schwaben nach Stra߬
burg. Sie hatten einen Anführer und noch zwei Meister, deren Befehlen
alle Folge leisteten. Als. sie um die Zeit der Prim1 den Rhein über¬
schritten hatten, bildeten sie unter Zulauf des Volkes einen weiten Kreis,
in dessen Mitte sie sich entkleideten, Kleider und Schuhe ablegten und,
bte Hemden hosenartig vom Schenkel bis zum Knöchel um sich schlagend,
herumgingen. Einer nach betn anderen warf sich in biesern Kreise wie ein
Gekreuzigter zu Boben, unb jeber von ihnen berührte im Vorübergehen bett
Hingestreckten mit ber Geißel. Die letzten, welche sich zuerst niebergeworfen,
stauben zuerst wieber auf, schlugen sich mit Geißeln, welche Knoten mit vier
eisernen Stacheln hatten, unb zogen, in deutscher Sprache zum Herrn singend,
unter vielen Anrufungen vorüber. In der Mitte des Kreises standen drei
laut Vorsingende, welche sich dabei geißelten; ihnen sangen die anderen nach.
Nachbetn sie dies lange so getrieben, beugten auf ein gegebenes Zeichen alle
bie Knie unb sielen wie Gekreuzigte unter Schluchzen unb Beten aus bas
Antlitz. Daraus gingen bie Meister im Kreise umher unb mahnten sie, ben
Herrn anzuflehen um Barmherzigkeit für bas Volk, für ihre Wohltäter, für
ihre Feinbe, für alle Sünber, für bie im Fegfeuer Besiublichen unb noch
viele anbete. Darauf erhoben sie sich unb sangen knienb unb mit zum
Himmel erhobenen Hauben. Enblich stauben sie auf unb geißelten sich lange
im Herumgehen wie vorher. Währenb sie sich anzogen, zog sich ber anbete
Teil von ihnen, welcher bie Kleiber bewacht hatte, aus unb machte es ebenso.
Dann staub ein mit kräftiger Stimme Begabter auf unb las einen Brief
vor, betn Inhalte nach ähnlich bemjenigen, welcher in bet Kirche bes heiligen
Petrus zu Jerusalem burch einen Engel überbracht sein sollte, wie es hieß.
Darin erzählt ber Engel, baß Christus, beleibigt burch bie Sünben ber
Welt — beten er mehrere aufführt, als Entheiligung bes Tages bes Herrn,
Nichtfasten am Freitage, Gotteslästerung, Wucher, Ehebruch — unb burch
bie heilige Jungfrau unb bte Engel um Barmherzigkeit angefleht, geant¬
wortet hätte: „jeber Mensch müßte merunbbreißtg Tage lang pilgern unb
sich geißeln, um Barmherzigkeit zu erlangen."
Die Straßburger hatten sie aber so lieb, baß alle schnell eingelaben
waren unb sich keiner mehr sanb, ben man hätte einlaben können. Sie
nahmen kein Almosen, würben sie aber eingelaben, so nahmen sie btes mit
Erlaubnis ihrer Meister an, wagten aber nicht, wenn sie später von noch
Wohlhabenderen gelaben würben, bie Einlabung zu vertauschen.
Dies (bas Geißeln) taten sie zweimal bes Tages auf offenen Plätzen
unb jeber heimlich auch einmal in ber Nacht. Mit Frauen sprachen sie
1 Die Prim ist die erste klösterliche Betzeit, 5 oder 6 Uhr morgens.