Dichtung
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Karl Lamprecht [„Der Unterschied der dichterischen Ein- j®-• *
drücke im 17., 18. und 19./20. Jahrhundert"^. 16^ 26ff.'
In die moderne Dichtung soll uns die Lyrik einführen.
Denn die Lyrik bildet die Urerscheinung aller Poesie; und wie
sich zeigen wird, bleibt sie dieser besonderen Stellung auch in
neueren Zeiten treu: mehr als irgendeine andere poetische Gat-
tung, wenn auch der Öffentlichkeit vielleicht weniger bekannt,
hat sie fast alle Wendungen der neuesten Entwicklung der Dich-
tung zuerst oder wenigstens zuerst wirksam eingeleitet.
Ehe aber an einzelnen Dichtern, den führenden Meistern
und Gruppen der Lyrik, eine genaue Analyse *) der modernen
Lyrik versucht wird, bedarf es der Lösung einer Vorfrage. Es
mutz, als Voraussetzung alles folgenden, gezeigt werden, daß
in dieser Lyrik die dichterischen Eindrücke von einer früher nie
erreichten Intensität2) sind: daß sich in ihr in der Tat ein
neuer und gegenüber jeder Entwicklungsstufe der nationalen
Vergangenheit gesteigerter Wirklichkeitssinn offenbart.
Nun würde dieser Beweis für das Ganze der modernen
Lyrik natürlich erst dann ganz gegeben sein, wenn er in genauer
Vergleichung dieses Ganzen mit dem lyrischen Ganzen früherer
Perioden durchgeführt wäre. Man sieht aber alsbald, daß ein
solcher Beweis an sich und namentlich im Zusammenhang unserer
Betrachtungen kaum möglich ist. Doch wird man zugleich auch
zugeben, daß es genügen muß, an einem typisch 3) gewählten
Beispiel den Unterschied der Intensität lyrischer und dichterischer
Eindrücke überhaupt im 17., 18. und 19. Jahrhundert — und
das heißt für das 19. Jahrhundert in der modernen Periode —
zu zeigen. Zu diesem Zwecke werden im folgenden drei ver-
schiedene Abendlieder aus den drei Jahrhunderten nebeneinander
gestellt: von Paul Gerhardts, von Matthias Claudius^), von
Otto Julius Bierbaum °).
1) „Auflösung", Scheidung.
2) Gedrängtheit. 3) hier --- bezeichnend.
4) siehe oben S. 15!
5) bekannt als „Wandsbeker Bote", 1740—1815.
6) 1865—1910.
Zeugnisse. 15