Kunst
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männlichen Umrißl), welchen die griechischen Meister ihren
Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüssigen Ansatz.
Der ganze Anzug der Griechen-) war so beschaffen, daß
er der bildenden Natur nicht den geringsten Zwang antat.
Das 3) Wachstum der schönen Form litt nichts durch die ver-
schiedenen Arten und Teile unserer heutigen pressenden und
klemmenden Kleidung, sonderlich am Halse, an Hüften und
Schenkeln. Das schöne Geschlecht selbst unter den Griechen
wußte von keinem ängstlichen Zwang in ihrem Putz: die jungen
Spartanerinnen waren so leicht und kurz bekleidet, daß man
sie daher Hüftezeigerinnen nannte.
Die Schule der Künstler war in den Gymnasien 4), wo die
jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte,
ganz nackend ihre Leibesübungen trieben. Der Weise und der
Künstler gingen dahin Man lernte daselbst Bewegungen
der Muskeln, Wendungen des Körpers: man studierte die
Umrisse der Körper oder den Kontur an den Abdruck 5), den
die jungen Ringer im Sande gemacht hatten.
Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur
veranlaßten die griechischen Künstler, noch weiter zu gehen: sie
fingen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten
sowohl einzelner Teile als ganzer Verhältnisse der Körper zu
bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild
war eine bloß im Verstände entworfene geistige Natur.
Nach solchen über die gewöhnliche Form der Materie G) er¬
habenen Begriffen bildeten die Griechen Götter und Menschen.
An Göttern und Göttinnen machte Stirn und Nase beinahe
eine gerade Linie. Die Köpfe berühmter Frauen auf griechischen
Münzen haben eben dergleichen Profil7).
1) Wortlaut: Kontur.
2) Wortlaut: Nächstdem war der ganze Anzug....
3) Wortlaut: Der.
4) Wörtlich: Leibesübungsschulen, Ringschulen, in den auch philosophische
Gespräche und Vorträge gehalten wurden.
5) — den Umritz des Abdruckes.
6) Des Stoffes, der natürlichen Beschaffenheit.
7) Seitenansicht.