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Doch was mußte er sehen! Die Form war wohlgefüllt, der Guß
war gut gelungen. Jetzt erst dachte er mit Schrecken an die blutige
Tat, die er im Jähzorne begangen hatte. Zur Wohnung zurück—
gekehrt, kniete er neben der Leiche seines CLehrlings nieder. Darauf
begab er sich zum Rathause und überlieferte sich reuevoll dem Gericht.
3. Als er zum Tode verurteilt worden war, bat er die Richter,
auf seinem letzten Lebensgange jene Glocke läuten zu lassen. Das
geschah, und seit dieser Zeit ward die Glocke nur angeschlagen, wenn
ein armer Sünder auf dem letzten Gange zum Tode war. Daher
nannte man sie die Armesünderglocke.
Nach J. G. Th. Grüsses Sagenbuch d. Preuß. Staates.
b) Die Dohle.
An einem Giebel der Rreuzkirche in Breslau sah man früher auf
dem Simse das Steinbild einer sitzenden Dohle. Was mag es bedeuten?
Einige Chorknaben gingen einst auf Entdeckungen aus und fanden
am Rirchdache ein Nest mit jungen Dohlen. Jeder wollte eine junge
Dohle haben. Doch so viel junge Vögel waren nicht vorhanden. Da
kam es zu Streit.
Einer der Rnaben hatte sich aus der Luke des Giebels auf das
Dach des Strebepfeilers hinausgewagt, weo sich das Nest befand. Im
Eifer des Streites verlor er das Gleichgewicht, und ehe er sich's ver—
sah, fiel er von seiner schmalen Bahn hinab. Doch der Hhimmel wachte
über ihn; denn von seinem aufgeblähten Schülermantel getragen, kam
er glücklich aus der Höhe auf den Erdboden.
Zum Andenken ließen die Domherren eine Dohle in Stein hauen
und dort anbringen. Nach J. G. Th. Grässes Sagenbuch d. Preuß. Staates.
234. Das Märlein vom Sonnenscheinchen.
1. Es war einmal in Breslau ein lustiges, kleines Sonnenscheinchen.
So lustig, daß es immerzu von einem Beinchen aufs andre hüpfte, und
so klein und blitzschnell, daß es auf einmal an allen Orten zugleich sein
konnte. Dabei war es so behende, daß es von der höchsten Turmspitze
bis in den tiefsten Keller sprang, ohne sich wehe zu tun. Alle Leute
kannten es und hatten es gern, obgleich es mitunter recht ungezogen und
unnütz war und Menschen und Tieren manchen Schabernack spielte.
2. Heute war Sonnenscheinchen besonders ausgelassen und hatte
schon in aller Frühe den alten Blücher am Blücherplatz erschreckt. Eben
wollte er das arme Scheinchen, das sich ihm keck auf die kalte Faust gesetzt
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