82. Der erste Türkenkrieg unter Katharina II.
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standen, durch Unterhandlungen ihre gegenseitigen Beziehungen zu ein¬
ander, zu Polen (s. S. 539 s.) und zur Pforte zu normiren, mußte es
Rußland am meisten darum zu thun sein, sein Ansehen durch neue
Siege noch mehr zu heben; cs handelte sich, nachdem im Feldzuge des
Jahres 1770 durch Eroberung der Festungen an der unteren Donau
und am Dniestr den Türken die unmittelbare Verbindung mit den Ta¬
taren der Krim abgeschnitten war. darum, diesen Erbfeind im Mutter¬
lande zu vernichten und die russische Macht am schwarzen Meere ans-
znbreiten. Rußland kam es bei seinem Unternehmen sehr zu Statten,
daß die Saat der Zwietracht und der Verlockung, die es mit so großem
Glück unter den Tataren der Moldau ausgestreut hatte, einen nicht
minder empfänglichen Boden unter den in Parteiungen zerfallenen
Stammeshäuptern der krim'schen Tataren fand. Von drei Seiten zu¬
gleich bedroht, hielten die Tataren nirgends Stand und die Russen
zogen als Sieger zu Jenikala, Kertsch und Kaffa ein. Katharina's
Stolz fühlte sich durch die Eroberung der Krim noch mehr gehoben,
als durch den Sieg bei Tscheschme. Vorzüglich in der Unterhaltung
mit den auswärtigen Ministern stellte sie cs als das größte Ereigniß
ihrer Regierung dar. dieser unterdrückten Nation zur Unabhängigkeit
und Freiheit verholsen zu haben. Aber bald sollte diese entfesselte
Nation erfahren, daß man ihr nur den Weg zur Selbstvernichtung
offen ließ.
Bereits einige Monate, nachdem der Fürst Dolgoruki das Land in
Besitz genommen, lief in Constantinopel eine von 150 der angesehensten
Tataren Unterzeichnete Bittschrift ein, worin sie ihre Treue bctheuerten
und sich beschwerten, daß man ihnen die Erklärung des Abfalls von
der Pforte abgczwungen; schon im folgenden Jahre muthete die russische
Regierung ihnen zu, 10,000 Mann gegen Schweden ins Feld zu stellen,
worauf die Mursen antworteten, daß sie nur zur Vertheidigung ihres
eigenen Landes verpflichtet seien. Bald machten die Russen in der
Krim sich durch ihre Bedrückungen so verhaßt, daß sich keiner ohne
starke Bedeckung außerhalb der von ihnen besetzten Städte sehen zu
lassen wagen durste.
Im vierten Feldzuge 1773 versuchte der Feldmarschall Ru-
mänzow zweimal vergeblich die Belagerung der Festung Silistria.
Das Ende dieses Jahres zeichnete sich durch zwei eben so für die
Türken, wie für die Russen wichtige Begebenheiten aus. Am 24. De-
cember starb der voreilige Urheber des Krieges, Sultan Mustafa.
Ihm folgte sein Bruder Abdulhamid, den man seit dem Tode seines
Vaters, Achmed'S III., 43 Jahre lang im Käfig eingcsperrt gehalten
hatte. Ohne Talent, ohne Geschäftserfahrung, ohne andere Kennt¬
nisse von der Welt, als die er sich durch die Lesung osmanischer Reichs-
gcschichte erworben, und daher im höchsten Grade aufgeblasen, war er
ein Muster türkischer Unwissenheit und Einbildung, übrigens ohne Cha¬
rakter, die Zügel der Regierung in schlaffen Händen haltend. In
demselben Monate hatte im südöstlichen Rußland ein Aufstand des Ko-
Pütz. Histar. Darstell, u. Charakteristiken. III. 35