Full text: Im späten Mittelalter (H. 4)

Der Richttag. 
der Naturkunde mußte ihn dazu veranlagen, in einer Zeit, die eine wissenschaft¬ 
liche Heilkunde noch nicht kannte, und der geheimnisvolle Nimbus, der ihn auch 
in den Augen der gebildeten Gesellschaftsklassen umgab, konnte diese Anziehungs¬ 
kraft nur steigern. Den vom Scharfrichter gehandhabten Gerätschaften wohnte 
in den Augen des gemeinen Volkes eine geheimnisvolle Zauberkraft irtne. Zieher 
gehören die Stücke und Splitter des Stäbchens, welches über dem armen Sünder 
gebrochen und ihm vor die Füße geworfen wurde. Ferner der Daumen gehenkter 
Diebe und jene wunderbare Wurzel, die tief in der Erde beim Habenstein wächst 
und aus den letzten Tränen unschuldig Gerichteter entsprießt. !Ver die glücklich 
aus der Erde zog, ohne durch den dabei erschallenden wehelaut tot hinzufallen 
oder wahnsinnig zu werden, der besaß in dieser Wurzel ein wunderbares Zauber- 
mittel. Das bei Enthauptungen dem Halse entspringende und sofort warm 
getrunkene Blut galt als Mittel gegen die Epilepsie. Bei der im Jahre 
zu Neustadt im hessischen «Odenwald stattgehabten Hinrichtung einiger Raub¬ 
mörder stand ein Henkersknecht bereit, um jedesmal, wenn ein Kopf fiel, von 
dem fontaineartig emporsteigenden Blut ein Glas voll aufzufangen, welches 
dann von den anwesenden Patienten ausgetrunken wurde1). 
Der R i ch 11 a g. )st der Arme öern Nachrichter über¬ 
antwortet, so wird unter Läuten der Sünderglocke und Begleitung 
der Priester, Büttel und Bettelrichter, des Löwen und Lochhüters, 
von denen jeder hierbei mit einein besonderen Arnt betraut ist, über 
den Fischmarkt, die Fleisch- oder Barfüßerbrücke zürn Frauentor 
hinausgeführt. Der Nachrichter befindet sich gleichfalls im Zuge, 
doch verläßt er ihn bald, um früher zur Richtstätte zu gelangen. 
Unterwegs wird der Arme mit Mein erquickt, auch findet wiederholt 
Abhörung der Beichte und Reichung des Abendmahls statt2). Frauen 
und Aranke werden mitunter auf Sesseln hinausgetragen. Zur 
Ausschleifung Verurteilte werden auf Häuten oder Holzschleifen 
durch Pferde (der Nachtjäger) zum Hochgericht geschleift; es gilt 
hierbei als frommes Verdienst, den Aopf des Armen zu Haltern 
Zu den Zangen werden vornehmlich Frauen verurteilt, indem sie 
aus einen wagen gebunden und unterwegs mit den glühenden 
Zangen in die Arme gekniffen werden. 
Am Haben st ein erwartet der Nachrichter den Delin¬ 
quenten, sowie der kaiserliche Bannrichter zu Pfeti) in feierlicher 
Gewandung, von berittenen Stadtknechten umgeben.... Vor 
der Exekution ruft ein Büttel das Friedgebot aus. Trotzdem tät¬ 
liches Eingreifen in dieselbe schwere Strafe nach sich zieht, benimmt 
sich oft der pöbel in ungebärdigster ZDeise3). 
Nach einer allerdings nicht sehr verbürgten Nachricht soll 
ehedem in der Stadt selbst und zwar auf dem Kopfleinsberg ge¬ 
richtet worden sein; erst erbaute man vor dem Frauentor 
(Galgenhos) das eigentliche Hofgericht, das bis zum Ausgang der 
*) Christian Meyer, die „Ehre", S. 35—39 gek. 2) An der Barfüßer- (jetzt 
Museums-) brücke und der Lorenzerkirche. 3) Knapp, N. Z\ ^0. n^.
	        
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