Der Richttag.
der Naturkunde mußte ihn dazu veranlagen, in einer Zeit, die eine wissenschaft¬
liche Heilkunde noch nicht kannte, und der geheimnisvolle Nimbus, der ihn auch
in den Augen der gebildeten Gesellschaftsklassen umgab, konnte diese Anziehungs¬
kraft nur steigern. Den vom Scharfrichter gehandhabten Gerätschaften wohnte
in den Augen des gemeinen Volkes eine geheimnisvolle Zauberkraft irtne. Zieher
gehören die Stücke und Splitter des Stäbchens, welches über dem armen Sünder
gebrochen und ihm vor die Füße geworfen wurde. Ferner der Daumen gehenkter
Diebe und jene wunderbare Wurzel, die tief in der Erde beim Habenstein wächst
und aus den letzten Tränen unschuldig Gerichteter entsprießt. !Ver die glücklich
aus der Erde zog, ohne durch den dabei erschallenden wehelaut tot hinzufallen
oder wahnsinnig zu werden, der besaß in dieser Wurzel ein wunderbares Zauber-
mittel. Das bei Enthauptungen dem Halse entspringende und sofort warm
getrunkene Blut galt als Mittel gegen die Epilepsie. Bei der im Jahre
zu Neustadt im hessischen «Odenwald stattgehabten Hinrichtung einiger Raub¬
mörder stand ein Henkersknecht bereit, um jedesmal, wenn ein Kopf fiel, von
dem fontaineartig emporsteigenden Blut ein Glas voll aufzufangen, welches
dann von den anwesenden Patienten ausgetrunken wurde1).
Der R i ch 11 a g. )st der Arme öern Nachrichter über¬
antwortet, so wird unter Läuten der Sünderglocke und Begleitung
der Priester, Büttel und Bettelrichter, des Löwen und Lochhüters,
von denen jeder hierbei mit einein besonderen Arnt betraut ist, über
den Fischmarkt, die Fleisch- oder Barfüßerbrücke zürn Frauentor
hinausgeführt. Der Nachrichter befindet sich gleichfalls im Zuge,
doch verläßt er ihn bald, um früher zur Richtstätte zu gelangen.
Unterwegs wird der Arme mit Mein erquickt, auch findet wiederholt
Abhörung der Beichte und Reichung des Abendmahls statt2). Frauen
und Aranke werden mitunter auf Sesseln hinausgetragen. Zur
Ausschleifung Verurteilte werden auf Häuten oder Holzschleifen
durch Pferde (der Nachtjäger) zum Hochgericht geschleift; es gilt
hierbei als frommes Verdienst, den Aopf des Armen zu Haltern
Zu den Zangen werden vornehmlich Frauen verurteilt, indem sie
aus einen wagen gebunden und unterwegs mit den glühenden
Zangen in die Arme gekniffen werden.
Am Haben st ein erwartet der Nachrichter den Delin¬
quenten, sowie der kaiserliche Bannrichter zu Pfeti) in feierlicher
Gewandung, von berittenen Stadtknechten umgeben.... Vor
der Exekution ruft ein Büttel das Friedgebot aus. Trotzdem tät¬
liches Eingreifen in dieselbe schwere Strafe nach sich zieht, benimmt
sich oft der pöbel in ungebärdigster ZDeise3).
Nach einer allerdings nicht sehr verbürgten Nachricht soll
ehedem in der Stadt selbst und zwar auf dem Kopfleinsberg ge¬
richtet worden sein; erst erbaute man vor dem Frauentor
(Galgenhos) das eigentliche Hofgericht, das bis zum Ausgang der
*) Christian Meyer, die „Ehre", S. 35—39 gek. 2) An der Barfüßer- (jetzt
Museums-) brücke und der Lorenzerkirche. 3) Knapp, N. Z\ ^0. n^.