Full text: Lesebuch aus Gustav Freytags Werken

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Das Mittelalter. (1100—1250.) 
Die Einwirkung dieser Fahrenden auf das Volk war nicht 
gering; jedes neue Ereignis verkündeten sie in Liedern, alle Neuig¬ 
keit, nach dem Geschmack der Hörer aufgefaßt und umgewandelt, 
trugen sie durch die Länder. In einer Zeit, wo keine regelmäßige 
Verbindung durch Boten und Schrift zwischen Staat und Land 
lief, regte jede große Nachricht, die aus der Fremde kam, die 
Menschen unverhältnismäßig auf. Zog in unruhiger Zeit ein Reiter, 
ein fremder Wanderer die Straße, so eilten die Leute von der 
Burg oder aus dem Felde herzu, hielten das Pferd an und forschten, 
was er Neues bringe'); in den Städten sammelten sich die Bürger 
um ihn, und er mußte wohl gar der Obrigkeit berichten, was er 
Neues wußte. 
Groß war auch Wirkung und Zauber wohlgefügter Worte. 
Nicht nur der Gesang riß die Zuhörer hin, daß ihnen in Rührung 
der Männertrotz schmolz oder im Zorn die Faust sich ballte, auch 
der Volksprediger vermochte die Menge aufzuregen, zn zerknirschen 
und zu begeistern. Noch war die Predigt kein regelmäßiger Bestand¬ 
teil des Gottesdienstes und dürftig in der Regel die schöpferische 
Arbeit des Predigers. Trat einer vor das Volk, dem die Worte 
voll und warm aus der Seele drangen, und verstand er Töne an¬ 
zuschlagen, welche in dem lebensfrischen, poetisch empfindenden Ge¬ 
schlechte stark wiederklangen, so war die Wirkung eine ungeheure. 
Mit Herrengewalt zog er die Seelen an sich, eine einzige Bu߬ 
predigt konnte viele zu dem Entschluß geistlicher Entsagung, zur 
Ablegung von Gelübden treiben, welche ihr ganzes Leben bestimmten. 
Und nicht das Volk allein war so geartet, daß ihm die Eindrücke 
einer Stunde übermächtig wurden, es ging den Vornehmen trotz 
weltlicher Lift und hartem Egoismus oft nicht anders. Gering war 
die Zahl der großen Jdeeen, an denen das Leben der Menschen 
hing, aber gewaltig war ihr Einfluß. — Dieser Zustande muß 
man eingedenk sein, wenn man die Kreuzfahrten der abendländischen 
Völker nach dem Orient begreifen will. 
’) So wird uns im „Ruodlieb", dem lateinischen Heldengedicht des 
11. Jahrhunderts, erzählt; die Vermutung Freytags über den Verfasser (vgl. 
S. 48) schließt sich an Schmeller an, ist aber jetzt aufgegeben.
	        
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