Full text: Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart (Teil 2)

Frankreich im Kriege mit Europa bis 1812. 39 
Ich hatte schon fünf Mann born Regiment gesammelt; drei babon 
hatten in bem Wirrwarr ihre Waffen eingebüßt. Sie machten auf 
meine Anweisung Feuer, währenb ich beftänbig bie Brücke im Auge 
behielt. Das Feuer zog aber balb so biel Menschen an, baß wir es be¬ 
lassen unb weiter ab ein anberes anmachen mußten. 
Das ungestüme Drängen unb ber Tumult auf unb an ber Brücke 
nahm inzwischen beftänbig zu unb würbe schließlich zu einem berzweif- 
lungsbollen, mörberifchen Ringen, als bie Russen ben Marsch all Victor 
angriffen unb Vollkugeln unb Granaten in bie bichten Massen schlugen. 
Von gegenseitiger Schonung war nun nicht mehr bie Rebe. Alle Wagen 
mit Vemunbeten ober sonstige Geführte, welche bie Brücke stopften, 
rollten jetzt in bie Fluten. Ununterbrochen wie bie Eisschollen trieben 
nunmehr bie Leichen bie Beresina hinab. Um bas Unglück bollzumachen, 
begann noch ein heftiges, bon einem eisigen Winbe begleitetes Schnee¬ 
gestöber. Der Höhepunkt alles Grausens kam aber erst zwischen acht 
unb neun Uhr abenbs, als Marschall Victor ben Rückzug antrat. Seine 
Truppen mußten burch unb überschritten bie Brücke über einen Berg 
bon Leichen. Er ließ eine Nachhut zurück, welche erst hinter ben noch 
an ber Brücke angesammelten Massen folgen sollte; biese aber ließen 
ebenso wie bie borhergegangene Nacht, so auch bie born 28. zum 29. ber¬ 
streichen, ohne über ben Fluß zu gehen. Erstarrt bon ber Kälte blieben 
sie, um sich zu erwärmen, bei ben zurückgelassenen Wagen, bie man 
absichtlich angezünbet hatte, um bie unglücklichen Menschen zum Auf¬ 
bruch anzutreiben. 
Ich herbrachte bie Nacht in ber Nähe ber Brücke mit siebzehn all¬ 
mählich gesammelten Leuten bes Regiments. Als es hell würbe, begab 
ich mich wieber zur Brücke, bie basselbe schreckliche Schauspiel bon gestern 
bot. Die Unglücklichen, welche in ihrem apathischen Zustanb es nicht 
über sich gewonnen hatten, bie Nacht zu ihrer Rettung zu benutzen, 
warfen sich nun am hellen Tage wieberum in bicht gebrängten Massen 
auf ben Übergang. Jetzt war es aber zu spät, benn schon würben bie 
Anstalten zum Abbrennen ber Brücke getroffen. Viele erhofften mit Hilfe 
ber Eisschollen bas anbete Ufer zu erreichen, boch keinem ber Ärmsten 
gelang bas. Bis an bie Schultern im Wasser, mit glühenbroten Gesichtern 
arbeiteten unb kämpften sie so lange gegen bie Strömung, bis sie bon 
ber Kälte erstarrt in ber Flut berschwanben. Auf ber Brücke bemerkte 
ich einen Marketenber, ber sein Kinb auf bem Kopfe trug, währenb 
seine bor ihm besinbliche Frau herzzerreißend Schreie ausstieß. Ich 
konnte nicht mehr hinsehen, es ging über meine Kräfte. Mich abwen- 
benb, sah ich nur noch, wie ein bespannter Wagen mit einem berwunbeten 
Offizier unb mehreren Leuten ins Wasser stürzte unb wie bie Brücke 
nunmehr in Branb gesetzt würbe. Ich lief, was ich laufen konnte, um 
nichts mehr zu hören unb zu sehen. 
Man sagt, baß bie Szenen, welche sich jetzt abspielten, so haarsträu-
	        
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