170 Die Gewaltherrschaft Napoleons und ihr Zusammenbruch.
geprägte Eigenart hätte entwickeln können. Auch wurde das allgemeine
Interesse vorwiegend durch staatliche und gesellschaftliche Fragen in Anspruch
genommen. Trotzdem war der Einfluß der Revolution auf das Geistes¬
und Gemütsleben bedeutend und tiefgehend: der Kampf gegen die aus
dem Mittelalter stammenden politischen und sozialen Lebensformen über¬
trug sich auch aus Sitte, Mode, Kunst, Wissenschaft usw. Lieber suchte
man seine Ideale bei den G r i e ch e n und Römern (Neuklassizismus)
als in der eigenen Vergangenheit. Je mehr aber an der Revolution und
der Napoleonischen Zwingherrschaft die Schattenseiten hervortraten, je
gründlicher sich alle bisherige Ordnung aufzulösen schien, desto allgemeiner
wurde die Abkehr von der neuen Bewegung. Jetzt lenkten die Gebildeten
den Blick wieder auf das M i t t e l a l t e r mit seinem starken Antoritäts-
gesühl auf kirchlichem, politischem und gesellschaftlichem Gebiete sowie
seiner Gemütstiefe. Man nannte diese Richtung Romantik). Sie zeigte
sich namentlich in der Kunst und in der Dichtung. Doch gehörte ihre eigent¬
liche Blüte erst dem folgenden Zeitalter an.
1. Mode und Stil blieben unter dem Einflüsse Frankreichs. Hier war mit
der Beseitigung des ancien rägime auch bie buntfarbige Tracht der alten Zeit
verschwunden und so traten an die Stelle von Kniehose, Schoßrock, Perücke
(bzw. Zopf), Dreispitzhut 2c. rc. die lange Hose, der Frack, die langen, natür¬
lichen Haare, der Rundhut u. dgl., alles in eintönigem Schwarz oder Grau. Die
Frauen trugen fließende, hochgebundene Gewänder. Der zierliche Rokoko- und
der steife Zopfstil wurden verdrängt durch den schwerfälligen, phantasielosen
Empirestil (Stil des Napoleonischen Kaiserreiches), der eine einseitige Nach¬
ahmung des antik-römischen2) war (vgl. S. 140 Anm.) und die Einfachheit der
Linien bis zur Ärmlichkeit herabdrückte.
Wohl der bekannteste französische Maler des Revolutionszeitalters war
1 1825 David, der als Konventsmitglied für den Tod Ludwigs XVL stimmte, dann
aber der Verherrlicher Napoleons wurde (Reiterbildnis des Ersten Konsuls,
Krönung Napoleons). — Die Führung in der plastischen Kunst hatte der italie-
t 1822 nische Bildhauer Canova, der mit Nachahmung der Alten Anmut und Zier¬
lichkeit verband (Statuen Napoleons und seiner Gattin Marie Luise). — Her¬
vorragende Bauwerke jener Zeit sind der Triumphbogen (aus dem Sternplatz)
in Paris und die Magdalenenkirche ebendaselbst, das Brandenburger Tor (mit
dem ehernen Viergespann der Siegesgöttin von Gottfried S ch a d o w) in
Berlin, das Münzgebäude in München u. ä.
2. Die Dichtung hielt sich, was Deutschland anbelangt, zunächst auf ihrer
klassischen Höhe; Schiller und Goethe erreichten den Gipfelpunkt ihres
Schaffens. Von Zeitgenossen verdienen Erwähnung die (S. 160 genormten)
Freiheitsdichter, ferner der Humor- und phantasiereiche, schwärmerische
x) Mit dem Wort „romantisch" (romanisch) bezeichnete man zunächst den Kunst¬
stil des 11. und 12. Jahrhunderts, dann die ganze mittelalterliche Welt- und
Lebensauffassung.
2) Auch die seit 1748 begonnene Wiederausgrabung Pompejis belebte das
Interesse für römische Kunst aufs neue.