Full text: Geschichtliches Lesebuch

90 VII. v. Treitschke, Anfänge der Eisenbahnen in Deutschland. 
einzelner Städte oder Landschaften berechnet, und fast schien es, als 
sollten die Deutschen dnrch den Fluch ihres Partikularismus verhin¬ 
dert werden, die große Erfindung mit großem Sinne zu benutzen. 
Da trat Friedrich List hervor mit dem Plane eines zusammenhängen¬ 
den, ganz Deutschland umfassenden Eisenbahnnetzes und zeigte durch 
die That, durch die glückliche Vollendung einer großen Bahnlinie, 
daß sein dem Durchschnittsmenschen fast unfaßbares Ideal sich ver¬ 
wirklichen ließ. Als der Bahnbrecher des deutschen Eisenbahnwesens 
erwarb er sich sein größtes Verdienst um die Nation, seine Stellung 
in der vaterländischen Geschichte. Als er vor Jahren für die deutsche 
Zolleinheit gearbeitet, hatte er doch nur mutig ausgesprochen, was 
die Mehrzahl der Zeitgenossen schon ersehnte, und in der Wahl der 
Mittel vielfach fehlgegriffen; jetzt aber, mit seinen Eisenbahnplünen, 
eilte er allen Landsleuten weit voraus und bewährte überall die 
geniale Sicherheit seines Seherblicks. . . . 
Ein gütiges Geschick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem 
Augenblicke, da die Bürgerschaft dem Anschluß an den Zollverein ent¬ 
gegensah und, ohne Wasserstraßen wie sie war, ängstlich nach neuen 
Verkehrswegen suchte. Hier oder nirgends, das sah er auf den ersten 
Blick, mußte der Grundstein des deutschen Eisenbahnsystems gelegt 
werden; wenn hier mit den Kapitalien der bedrängten reichen Handels¬ 
stadt eine große Verkehrsbahn entstand, so konnte ihr in dem geroerb- 
reichen Lande der Erfolg nicht fehlen, und der Anschluß neuer Bahnen 
nach dem Norden und Westen ergab sich dann fast von selbst aus 
Leipzigs centraler Lage. Die wohlwollende sächsische Regierung ge¬ 
stattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert um die Warnungen der 
Wiener Hofburg und des unversöhnlichen Königs von Württemberg. 
Sofort ließ er nun fein Büchlein „über ein sächsisches Eisenbahnsystem 
als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems" (1833) 
erscheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunderbarem 
Scharfblick fast überall das Rechte treffend, ein Bild von dem Eisen¬ 
bahnwesen der Zukunft: Lindau und Basel, Bremen und Hamburg, 
Stettin, Danzig und Breslau sollten vorläufig die Endpunkte des 
deutschen Bahnnetzes bilden, ganz wie es sich nachher erfüllte. In 
Berlin, das er nur oberflächlich kannte, sah er doch schon den Mittel¬ 
punkt des deutschen Verkehrs; sechs große Bahnlinien, die allesamt 
späterhin gebaut worden sind, wollte er dort einmünden lassen. Sein 
Plan galt nur dem Zollvereine und dessen Vorlanden; Österreich ließ 
er, mit Ausnahme der einen Linie Dresden-Prag, vorläufig unbe*
	        
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