Full text: Lesebuch für die mittlere Stufe (Abteilung 1, [Schülerband])

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30. Das Nclkenbect. 31. Der deutsche JLgerbursche. 
30. Das Nclkenbect. 
O Mütterchen, gieb jedem von uns ein Blumenbeetchen, das uns zugc- 
höre, mir eins und Gustav eins und Alwina eins, und jeder Pfleget dann des 
seinigen! 
So sprach der kleine Fritz zu seiner Mutter, und die Mutter gewährte 
ihm seine Bitte und gab jedem ein Blumenbeet voll schöner Nelken. Und 
die Kinder freuten sich und sprachen: „Wenn erst die Nelken blühen, das 
wird eine Herrlichkeit sein!" — Denn es war noch nicht die Zeit der Nelken, 
sondern sie hatten erst Knospen gewonnen. 
Aber der kleine Fritz war ungeduldig in seinem Gemüte; er konnte die 
Zeit der Blüte nicht erwarten, und er wünschte, daß sein Blumenbeet zuerst 
vor allen andern blühen möchte. 
Da trat er hinzu, nahm die Knospen in seine Hand und beschaute sie 
in ihren Windeln und freute sich, wenn aus der grünen Hülle schon ein 
Bllltenblättchen rot oder gelblich hervorschimmerte. 
Aber es währte ihm zu lange. Fritz brach die Knospen auf und riß 
die Blättchen auseinander. Nun rief er mit lauter Stimme: „Sehet, meine 
Nelken blühen!" 
Allein, als die Sonne darauf schien, neigten die Blumen ihre Häupter 
und waren zerzaust und welk, ehe es Mittag war. Und der Knabe weinte 
um sie. 
Aber die Mutter sprach: „Durch deine Ungeduld hast du dir die Freude 
verdorben. Möchtest du dadurch lernen, künftig in Geduld zu warten." 
R.rummacher. 
31. Der deutsche Jägcrbursche. 
Ein in Polen wohnender deutscher Unterförster sandte eines 
Abends seinen Sohn, einen vierzehnjährigen Burschen, auf ein benach 
bartes Dorf. Als der Knabe wieder nach Hause ging und kaum noch 
dreihundert Schritt von der elterlichen Wohnung entfernt war, sah er 
etwas auf dem Wege sitzen, das er anfänglich für einen Hund hielt. 
Der Mond warf sein mattes Licht auf den Weg; der Schnee flinkerte; 
es war eine entsetzliche Kälte. Der Bursche trat noch einige Schritte 
vorwärts und erkannte einen Wolf. In der Schule hatte er oft er¬ 
zählen hören, daß, wenn man von einem Bären verfolgt werde, es 
ratsam sei, sich auf die Erde zu werfen und sich tot zu stellen. In 
der Angst verwechselte er dies, meinte, sein Leben sei auch gegen den 
Wolf auf diese Weise gesichert, und warf sich platt auf die Erde. Der 
Wolf näherte sich augenbliFlich mit langsamen, bedächtigen Schritten, 
stand vor ihm still und schnoberte forschend. Der Bursche rührte kein 
Glied. Jetzt umging ihn der Wolf, stand dann unten bei den Füßen 
still und fing an, ihn zu beriechen und hier und da mit der Schnauze 
zu bestoßen. Überall traf er auf Kleidungsstücke. Er rückte immer 
höher und höher nach dem Kopfe hinauf und kam ans Genick, an 
das erste Fleisch. Er leckte, er schnoberte und kniff mit den Lippen;
	        
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