Object: [Band 2 = 3. Schuljahr, [Schülerband]] (Band 2 = 3. Schuljahr, [Schülerband])

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zu dem armen Mädchen hin. Jetzt erlosch das Hölzchen, und es blieb 
die dicke, feuchtkalte Mauer zurück. Sic zündete noch ein Hölzchen an. 
Da saß sie nun unter dem herrlichsten Thristbaume, er war noch größer 
und geputzter als der, den sie durch die Glastür bei dem reichen Bauf- 
manne gesehen hatte. Tausende von Lichterchen brannten auf den grünen 
Zweigen und bunte Bilder, wie sie an den Schaufenstern zu sehen waren, 
blickten auf sie herab. Die Bleine streckte ihre Hände darnach aus; — 
doch da erlosch das Streichhölzchen. Die Weihnachtslichter stiegen höher 
und höher, sie sah sie jetzt als Sterne am Himmel; einer davon fiel her¬ 
unter und bildete einen langen Jeuerstreifen. 
„Jetzt stirbt jemand!" sagte das kleine Mädchen, denn ihre alte 
Großmutter, die einzige, die sie lieb gehabt hatte und die jetzt gestorben 
war, hatte ihr erzählt, daß, wenn ein Stern herunterfällt, eine Seele 
zu Gott emporsteige. 
Sie strich wieder ein Hölzchen an der Mauer ab. Es wurde wieder 
hell, und in dem Glanze stand die alte Großmutter so klar und schim¬ 
mernd, so mild und liebevoll. „Großmutter!" rief die Bleine, „0 nimm 
mich mit; ich weiß, du gehst von mir, wenn das Hölzchen erlischt; du 
verschwindest wie der warme Dfen, wie der Gänsebraten und der große 
prächtige Weihnachtsbaum!" und sie verstrich schnell das ganze Bund 
Schwefelhölzchen, denn sie wollte die Großmutter recht festhalten. — 
Und die Schwefelhölzchen leuchteten mit einem solchen Glanze, daß 
es Heller wurde als wie am Tage; die Großmutter war nie so schön, 
so groß gewesen; sie nahm das kleine Mädchen auf ihre Urme und beide 
flogen in Glanz und Ireude so hoch, so hoch, und dort oben war weder 
Kälte, noch Hunger, noch Ungst — sie waren bei Gott. — 
Im Winkel aber, an die Mauer gelehnt, saß in kalter Morgenstunde 
das arme Mädchen mit bleichen Backen und mit lächelndem Munde — 
erfroren an des alten Jahres letztem Übende. Die Neujahrssonne ging 
auf über der kleinen Leiche. Starr saß das Bind dort mit den Schwefel¬ 
hölzchen, von denen ein Bund abgebrannt war. „Sie hat sich erwärmen 
wollen", sagte man; niemand ahnte, was es Schönes gesehen hatte, in 
welchem Glanze sie mit der Großmutter zur Neujahrsfreude ein¬ 
gegangen war. 
137. Neujahr. 
Rudolf Löwenstein. 
Im Januar beginnt das Jahr 
der Tage raschen Lauf, 
und neue Hoffnung gehet klar 
in jedem Herzen auf.
	        
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