Object: Beschreibende und lehrende Prosa (Teil 3)

8 I- Beschreibende Prosa: Geschichtliche und geographische Charakteristik. 
harrte, bis sein Antlitz sich zeigte, wie eine Sonne, an deren Strahlen 
man sich erfreuen wollte. Als aber die Räume verhängt waren, wo er 
in so harmloser Nähe seines Volkes lebte, blieben die Bürger wie durch 
einen Zauber gebannt und schauten lautlos nach dem Kaiserhause, bis sie 
endlich, zu Tausenden gedrängt, bei Tage wie bei Nacht an den offenen 
Sarg pilgerten, um noch einmal das ehrwürdige Angesicht zu sehen. 
Wahrlich, ein solcher Wechsel von Glück und Unbill, von geduldigem 
Ausharren und raschen Triumphen, von bitterer Verkennung und einer be¬ 
geisterten Liebe, wie sie uns nur aus Märchenklängen bekannt war, ist selten 
durch ein Menschenleben gegangen, und doch ist alles ein Ganzes, wie in dem 
Bilde eines Meisters, in welchem die Gestalten sich verworren durcheinander 
zu drängen scheinen, bis uns der Zusammenhang des Ganzen klar wird. 
Ja, dieses Bild von Kaiser Wilhelms Leben in seiner Mannigfaltigkeit und 
innern Einheit wird, solange es eine Geschichte giebt, immer einer der 
inhaltreichsten und erhebendsten Gegenstände menschlicher Betrachtung sein. 
Unverloren waren schon die Erlebnisse der frühesten Jugend. Der 
Eindruck einer bescheidenen und haushälterischen Einrichtung, die Erinne¬ 
rung an das sorgenvolle Antlitz des, Vaters, an die heimlichen Thränen 
einer unvergeßlichen Mutter haben den Kaiser durch sein langes Leben 
begleitet und ihn von früh an vor jeder Anwandlung von Überhebnng 
bewahrt. Die Unbeständigkeit menschlicher Dinge stand ihm immer vor 
Augen. Wer hat je ein Wort des Selbstrühmens von ihm gehört oder 
einen Blick des stolze,: Selbstvertrauens an ihm wahrgenommen? Von 
allen Erfolgen in Krieg und Frieden gab er Gott die Ehre und den 
Männern, die er ihm gegeben. Demut war das Ehrenkleid des Herrschers, 
der Purpur dieses Helden, dessen Thaten den Erdkreis erfüllten. 
Wichtig für den Lebensgang des Kaisers war es, daß er in voller 
Mannesreife stand, als ihm der Gedanke nahe trat, daß er auf den 
Thron seiner Väter berufen sein würde. 
Darum hat er sich so lange voll und ganz einem Berufe, dem 
Heerdienste, gewidmet und denselben von Stufe zu Stufe gewissenhaft 
durchgemacht. Hier ist ihm die rücksichtsloseste Pflichttreue im großen 
und kleinen zur andern Natur geworden. Hier hat er die Bedürfnisse 
des Soldaten, hier alle starken und schwachen Seiten unseres Heerwesens 
auf das genaueste kennen gelernt, so daß er in einem der wichtigsten 
Teile des Staatswesens ein vollkommen Sachverständiger war, als er die 
Verpflichtung fühlte, seinen Gesichtskreis nach allen Seiten zu erweitern. 
Deutlich erkannte er, was in Preußen, was in Deutschland anders 
werden müsse, und nimmer kann ich — denn warum sollte ich Bedenken 
tragen, heute vor Ihnen eigene Erinnerungen einzuflechten, die zu den 
teuersten meines Lebens gehören? — des 22. März 1848, heute vor
	        
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