Full text: [Obertertia, [Schülerband]] (Teil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband])

161 
das Rauschen der Wasser, die den Jüngling nicht wiederbringen, das tote 
Brausen des Meeres. Das alles lebt in der ganzen Fülle der nacheinander 
sich entwickelnden Bilder. Auf dem Hintergründe des großen Naturschauspiels 
geht das bewegte Rittermärchen vor mit all den vertrauten Gestalten der 
Märchenpoesie und gewinnt Sinn und bedeutsame Tiefe als ein Bild der 5 
menschlichen Maßlosigkeit, die ihre Strafe in sich selber trägt. 
Dem gegenüber schildern „Der Handschuh" (18. und 19. Juni 1797), 
„Der Ring des Polykrates" (24. Juni 1797) und auch die „Nadoweisische 
Totenklage" (Juli 1797) nur eine einzige Szene. Drei verschiedenen Kultur¬ 
ivelten gehören sie an und geben eine jede in ihrer charakteristischen Haltung, 10 
das Mittelalter, das Griechentum, das Naturvolk. Im ersten und dritten 
Gedicht überwiegt das Bild, im zweiten der Gedanke. Wie überaus charak¬ 
teristisch geben Schillers Worte das Bild der wilden Katzen wieder. In den 
kürzesten Zügen erzählt er dann die kleine Anekdote von der zierlichen lau¬ 
nischen Dann', dem Mannesmut und dem Mannesstolz. Neben den Bestien 15 
entwickelt sich dies Geschichtchen aus dem galanten Minnedienst des Mittel¬ 
alters mit seiner überraschenden Wendung. Auch der Ring des Polykrates 
gestaltet eine Anekdote, diesmal aus der antiken Welt, — ein wenig zu be¬ 
wußt abgestimmt auf den Gedanken, der im Hintergründe lauert, von dem 
Neide der Götter. Die „Nadowessische Totenklage" will uns nur hinein-20 
versetzen in das Empfinden des primitiven Volks und in seine rührende 
Einfachheit. So gibt auch der „Ritter Toggenburg" (August 1797) uns das 
Mitgefühl der ritterlichen, bis in den Tod getreuen Liebe. 
Zur vollen Höhe großer Kunst erhob Schiller die Ballade mit seinen 
„Kranichen des Jbykus" (August und September 1797). Sein ganzes25 
Können scheint zu wachsen an dem Funde dieses Stoffes, der wie für ihn 
gemacht war. Unaufhaltsam ist der Fluß der in ihrer Einfachheit vollendeten 
Erzählung. Das in allen Teilen wiederkehrende Bild des Kranichschwarms, 
dessen Verwendung in diesem Sinn auf Goethes Rat geschah, hält das Ganze 
zu einer Einheit und zugleich mit der Natur zusammen. Sie waren die 30 
Genossen des Dichters auf der Fahrt und führen für den Genossen die Rache 
> herbei. Ein Gott offenbart sich in der Natur. Mit überwältigender Wucht 
tritt aus dem gleichgültigen Gange der Ereignisse plötzlich das rächende Gött¬ 
liche hervor. Zwischen der natürlichen und der sittlichen Welt aber vermittelt 
die Kunst. Unser Gemüt ist erschüttert wie das der Hörer im Gedicht und 35 
vorbereitet auf die überraschende Selbstenthüllung der himmlischen Gewalten 
durch den grausig großen Chor der Eumeniden und ihre Verkündigung von 
der göttlichen Macht, die geheimnisvoll im Verborgenen die Sühne aller 
Schuld wirkt. Wie geht das alles in der knappsten Fassung und im kühnen 
Zuge der alles Nebensächliche überspringenden Erzählung an uns vorüber, 40 
ebenso klar in der Mitteilung des Tatsächlichen wie groß und anschaulich in 
Paulsiek, Deutsches Lesebuch für Obertertia. 11
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.