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das Rauschen der Wasser, die den Jüngling nicht wiederbringen, das tote
Brausen des Meeres. Das alles lebt in der ganzen Fülle der nacheinander
sich entwickelnden Bilder. Auf dem Hintergründe des großen Naturschauspiels
geht das bewegte Rittermärchen vor mit all den vertrauten Gestalten der
Märchenpoesie und gewinnt Sinn und bedeutsame Tiefe als ein Bild der 5
menschlichen Maßlosigkeit, die ihre Strafe in sich selber trägt.
Dem gegenüber schildern „Der Handschuh" (18. und 19. Juni 1797),
„Der Ring des Polykrates" (24. Juni 1797) und auch die „Nadoweisische
Totenklage" (Juli 1797) nur eine einzige Szene. Drei verschiedenen Kultur¬
ivelten gehören sie an und geben eine jede in ihrer charakteristischen Haltung, 10
das Mittelalter, das Griechentum, das Naturvolk. Im ersten und dritten
Gedicht überwiegt das Bild, im zweiten der Gedanke. Wie überaus charak¬
teristisch geben Schillers Worte das Bild der wilden Katzen wieder. In den
kürzesten Zügen erzählt er dann die kleine Anekdote von der zierlichen lau¬
nischen Dann', dem Mannesmut und dem Mannesstolz. Neben den Bestien 15
entwickelt sich dies Geschichtchen aus dem galanten Minnedienst des Mittel¬
alters mit seiner überraschenden Wendung. Auch der Ring des Polykrates
gestaltet eine Anekdote, diesmal aus der antiken Welt, — ein wenig zu be¬
wußt abgestimmt auf den Gedanken, der im Hintergründe lauert, von dem
Neide der Götter. Die „Nadowessische Totenklage" will uns nur hinein-20
versetzen in das Empfinden des primitiven Volks und in seine rührende
Einfachheit. So gibt auch der „Ritter Toggenburg" (August 1797) uns das
Mitgefühl der ritterlichen, bis in den Tod getreuen Liebe.
Zur vollen Höhe großer Kunst erhob Schiller die Ballade mit seinen
„Kranichen des Jbykus" (August und September 1797). Sein ganzes25
Können scheint zu wachsen an dem Funde dieses Stoffes, der wie für ihn
gemacht war. Unaufhaltsam ist der Fluß der in ihrer Einfachheit vollendeten
Erzählung. Das in allen Teilen wiederkehrende Bild des Kranichschwarms,
dessen Verwendung in diesem Sinn auf Goethes Rat geschah, hält das Ganze
zu einer Einheit und zugleich mit der Natur zusammen. Sie waren die 30
Genossen des Dichters auf der Fahrt und führen für den Genossen die Rache
> herbei. Ein Gott offenbart sich in der Natur. Mit überwältigender Wucht
tritt aus dem gleichgültigen Gange der Ereignisse plötzlich das rächende Gött¬
liche hervor. Zwischen der natürlichen und der sittlichen Welt aber vermittelt
die Kunst. Unser Gemüt ist erschüttert wie das der Hörer im Gedicht und 35
vorbereitet auf die überraschende Selbstenthüllung der himmlischen Gewalten
durch den grausig großen Chor der Eumeniden und ihre Verkündigung von
der göttlichen Macht, die geheimnisvoll im Verborgenen die Sühne aller
Schuld wirkt. Wie geht das alles in der knappsten Fassung und im kühnen
Zuge der alles Nebensächliche überspringenden Erzählung an uns vorüber, 40
ebenso klar in der Mitteilung des Tatsächlichen wie groß und anschaulich in
Paulsiek, Deutsches Lesebuch für Obertertia. 11