Fabeln, Parabeln und Paramythien.
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Welche kleinen Geister stiegen aus euren Kelchen empor, und welch Vergnügen
fühltet ihr, da sich Göttinnen auf euren Blättern wiegten? Sagt mir, fried¬
liche Blumen, wie teilten sie sich in ihr erfreuend Geschäft und winkten ein¬
ander zu, wenn sie ihr feines Gewebe so vielfach spannen, so vielfach zierten
und stickten?
Aber ihr schweigt, holdselige Kinder, und genießt eures Daseins. Wohlan,
mir soll die lehrende Fabel erzählen, was euer Mund mir verschweigt!
Als einst, ein nackter Fels, die Erde dastand, — siehe, da trug eine
freundliche Schar von Nymphen den jungfräulichen Boden hinan, und ge¬
fällige Genien waren bereit, den nackten Fels zu beblümen. Vielfach teilten
sie sich in ihr Geschäft. Schon unter Schnee und im kalten, kleinen Grase
sing die bescheidene Demut an und webte das sich verbergende Veilchen. Die
Hoffnung trat hinter ihr her und füllte mit kühlenden Düften die kleinen
Kelche der erquickenden Hyazinthe. Jetzt kam, da es jenen so wohl gelang,
bin stolzer, prangender Ehor vielfarbiger Schönen. Die Dulpe erhob ihr
Haupt, die Narzisse blickte umher mit ihrem schmachtenden Auge.
Viel andere Göttinnen und Nymphen beschäftigten sich auf mancherlei Art
und schmückten die Erde, frohlockend über ihr schönes Gebilde.
Und siehe, als ein großer Teil von ihren Werken mit seinem Ruhme
und ihrer Freude daran verblüht war, sprach Venus zu ihren Grazien also:
„Was säumt ihr, Schwestern der Anmut! Auf! Webet von euren Reizen
auch eine sterbliche, sichtbare Blüte!" Sie gingen zur Erd' hinab, und Aglaja,
die Grazie der Unschuld, bildete die Lilie; Thalia und Euphrosyne webten mit
schwesterlicher Hand die Blume der Freude und Liebe, die jungfräuliche Rose.
Manche Blumen des Feldes und Gartens neideten einander; die Lilie
und die Rose neideten keine und wurden von allen beneidet. Schwesterlich
blühen sie zusammen auf einem Gefilde der Hora und zieren einander, denn
schwesterliche Grazien haben ungetrennt sie gewebt. .
Auch aus euren Wangen, o Mädchen, blühen Lilien und Rosen; mögen
auch ihre Huldinnen, die Unschuld, Freude und Liebe, vereint und unzertrenn¬
lich auf ihnen wohnen!
6. Die Moosrose.
Friedrich Adolf Krummacher.
Parabeln, Apologie» und Paramythien. Essen, 1810 u. 1817.
Der Engel, der die Blumen verpflegt und in stiller Nacht den Tau darauf
räufelt, schlummerte an einem Frühlingstage im Schatten eines Rosenstrauches.
. Und als er erwachte, da sprach er mit freundlichem Antlitze: „Lieblichstes
Werner Kinder, ich danke dir für deinen erquickenden Wohlgeruch und für
ernen kühlenden Schatten. Könntest du dir noch etwas erbitten, wie gern
wurde ich es dir gewähren!"
„So schmücke mich mit einem neuen Reize!" flehte darauf der Geist des
Rosenstrauches.
Und der Blumenengel schmückte die Königin der Blumen mit einfachem
Moose.
Lieblich stand sie da in bescheidenem Schmucke, die Moosrose, die schönste
ihres Geschlechtes. —
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