196 Erstes Buch. IV. Abschnitt: Bilder aus dem Karlingischen Weltreiche.
über Fremdem und Einheimischem, gegenüber antiker Tradition und germani¬
scher Eigenart. Denn eben hierin liegt die Bedeutung Karls des Großen,
ja des Karlingischen Staates und der Karlingischen Kultur überhaupt, daß
sie universell und neidlos die sehr verschiedenen Einflüsse, unter denen das
Zeitalter stand, aufzunehmen und zu dem zu verknüpfen begann, was das
eigentliche mittelalterliche Wesen bezeichnet.
Der größte aller Gegensätze, den es hier auszugleichen galt, war der¬
jenige zwischen der noch niedrigen germanischen Kultur der fränkischen Sieger
und der gallischen Tradition eines überfeinerten antiken Lebens, wie sie für
die Franken durch die Eroberung Italiens wirksam aufgefrischt worden war.
Es waren an sich unversöhnliche Gegensätze; ohne Vermittlung hätten sie
einander aufreiben müssen — und kein Zweifel, daß auch in diesem Falle
der Lebende, der Barbarismus des Germanentums, recht behalten hätte; —
aber auch bei günstigster Vermittlung war vorauszusehen, daß die Ver¬
schmelzung ein Zeitalter erfordern würde und nur unter mancher Einbuße
deutschnationaler Elemente und starker Verblassung der antiken Einwirkungen
vor sich gehen konnte. Die Vermittlung aber übernahm schließlich die Kirche,
und das Verdienst Karls des Großen ist es, eben die Kirche dauernd in diese
Vermittlerrolle gedrängt zu haben.
So wird denn das kirchliche Interesse für Karl den Großen im Laufe
seiner Regierung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr das centrale Interesse
überhaupt, bis sein Reich nach der Kaiserkrönung des Jahres 800 einen gottes¬
staatlichen Charakter annimmt. So begreift es sich, daß Augustins Buch
vom Gottesstaat die Lieblingslektüre des Kaisers ward: er wollte dem Ge¬
danken des großen Kirchenlehrers von Hippo Leben verleihen, wenn auch in
anderer Gestalt, als dieser gemeint hatte. So versteht sich die Fülle der
Verwaltungsmaßregeln und Verordnungen, durch deren Erlaß das geistliche
Element, allen voran die Bischöfe, zur Mitregierung des Reiches berufen ward,
so die Begünstigung und bald Beherrschung des Papsttums, so die stattliche
Reihe der Glaubenskriege in Ost und West.
Aber auch die Energie Karls des Großen vermochte es nicht, eine
neue germanifch-römifch-chriftliche Kultur aus der Erde zu stampfen. So
ungeheuer fein Wagnis und so unbegrenzt feine Kraft erscheint: hier kämpfte
er gegen den Genius der nationalen Geschichte selbst. So sicher große
Geister eine bestimmte Entwicklung um Jahrzehnte fördern oder hemmen
können, und so bestimmt sie in diesem Vermögen die Macht besitzen über
Glück und Unglück von Tausenden ihrer Zeitgenossen: so wenig sind sie
imstande, neue Zeitalter höherer Entwicklung aus eigenen Kräften im Hand¬
umdrehen zu schaffen. Die Geschicke der Nationen, denen es überhaupt
vergönnt ist sich auszuwirken, gehen ihren eigenen Weg nach ihnen
innewohnenden Gesetzen, und auch ihre hervorragendsten Söhne haben
dem gegenüber nicht mehr Freiheit eigenen Wirkens, als etwa der Durch¬
schnittsmensch Willensfreiheit besitzt gegenüber der kleinen Welt seiner
Umgebung.
Es würde daher falsch fein, sich Karl den Großen auch nur in den
letzten Jahren feines langen Lebens von Zuständen umgeben zu denken, die
dem Ideal geglichen hätten, das feine Seele wie ein schöner Traum entzückte.