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Riehl: Das Standesbewußtsein der Armut. 
Himmel von der regelmäßigen Arbeit in der Kolonie abhängig machen, er 
mußte seinen Kindern die Rute des Despoten zeigen, damit sie in dem 
freien Amerika den Geschmack an der sozialen Gleichheit nicht verlören. 
Der Proletarier wühlt in Europa die Pflastersteine auf, um gegen Staats¬ 
einrichtungen zu kämpfen, von denen er sich gar selten persönlich belästigt 
fühlt, und für Verfassungsideale, die über seinem Gesichtskreise liegen, weil 
er glaubt, daß mit der alten Staatsordnung auch die alte gesellschaftliche 
falle, weil man ihm gesagt hat, daß, wofern er die Monarchie ausstreiche, 
auch das Wort der Schrift ausgestrichen sei: „Im Schweiße deines An¬ 
gesichts sollst du dein Brot essen." Und wenn er nun in die Neue Welt 
kommt, wo die alte Staatsordnung nicht besteht, dann findet er, daß die 
neue Gesellschaftsordnung, für welche er sich daheim hat blutig schlagen 
lassen, hier noch immer als eine unerträgliche Sklaverei sich bewährt hat. 
Die „Massenarmut" ist das Gespenst, vor welchem eine Zeit wie die 
unserige, die Wohlleben und Reichtum zu einem Selbstzweck des Menschen¬ 
daseins gemacht hat, entsetzt zusammenschrickt. Aber die Massenarmut des 
gemeinen Mannes wird nur da gefährlich, wo die Massenfaulenzerei der 
begüterten Leute ihr gegenübertritt. Der hat kein Recht, mitzureden über 
den Empörungsgeist des besitzlosen vierten Standes wider die Besitzenden, 
der nicht selber, hoch oder gering, im Schweiße seines Angesichtes sein Brot 
ißt. Erst seit Nichtstun auch im Bürgertum für vornehm gilt, ist die 
Massenarmut ein Schreckwort geworden. Die Massenarmut an sich ist kein 
Kind der neueren Zeit. Es bedarf nur eines gründlichen Einblickes in die 
Bücher der Geschichte, um die Überzeugung zu gewinnen, daß im Gegen¬ 
teil die Massenarmut im Laufe der Jahrhunderte sich ununterbrochen ver¬ 
ringert habe. Aber durch die Hoffart, mit welcher der sich selbst vergötternde 
Reichtum der verarmten Masse entgegentrat, ist in den grollenden Seelen 
der Armen jenes Selbstbewußtsein des Pauperismus geweckt worden, welches 
im Fiebertraum des Hungerwahnsinns den Besitz für einen privilegierten 
Diebstahl ansieht. Wie wollt ihr, deren Götze der Reichtum ist, mit dem 
Armen rechten, weil er mit dem Knüttel und mit Pflastersteinen diesen 
Götzen zerschmettern will, wie der Jehovah des Alten Bundes heischt, daß 
man die Götzenbilder zerschmettere? Der Verdienst der arbeitenden Klassen 
war in alten Zeiten ein verhältnismäßig weit geringerer als gegenwärtig, 
ja, das eigentliche Proletariat ist vordem in weit furchtbareren Scharen vor¬ 
handen gewesen, aber die Schreckgestalt des nwdernen „Pauperismus" hat 
gerade erst mit der Besserstellung der unteren Klassen und mit der gleich¬ 
zeitig wachsenden Überschätzung des Besitzes ihren Anfang genommen. 
Werfen wir einige flüchtige Blicke auf diese merkwürdige Erscheinung 
in der Geschichte des Elendes!
	        
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