Full text: Für die Oberstufe der Seminare und zur Weiterbildung für Lehrer (Band 4, [Schülerband])

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sehr bekümmert, daß ich den Weg verlor — und wie groß ist nun meine Freude, daß ich dich 
fand! So geht es aber immer: durch Leiden führt Gott zu Freuden. Allein wo hältst 
du dich denn jetzt auf, liebste Schwester?" 
„Kaum eine Viertelstunde von hier", sagte Luise, „unten im Tale, liegt Schönborn, 
ein ansehnlicher Marktflecken. Dort wohnt die edle Bürgersfrau, die mich aus- und annahm. 
Sie ist eine Witwe und hat sonst keine Kinder. Ihr Mann war ein sehr vermöglicher Kauf¬ 
mann. Sie liebt mich ungemein und hält mich nicht anders, als ihr eigenes Kind. Aber, 
o komm, laß uns jetzt gleich zu ihr! Nimm Hut und Stock; ich will dir dein Felleisen tragen; 
denn du bist wohl sehr müde! Komm, meine Pflegemutter wird eine große Freude haben, 
dich kennen zu lernen." 
Sie machten sich beide auf den Weg. Der Bruder gab es aber nicht zu, daß ihm die 
Schwester das schwere Felleisen trug. Unter vertraulichen Gesprächen gingen sie die kurze 
Strecke Weges nach Schönborn. Als sie in dem reinlichen, wohlgebauten und wohleinge¬ 
richteten Hause angekommen waren, wollte die Frau es nicht sogleich glauben, daß der 
fremde Jüngling Luisens Bruder sei. Es kamen mehrere Neugierige herbei. Der eine sagte: 
"Freilich ist er Lieschens Bruder, er steht ihr ja gleich". Der andere schüttelte den Kopf, 
und sagte: „Trau — schau — wem! " Allein Konrad öffnete seine Brieftasche, legte seinen 
Lehrbrief, sein Wanderbuch und ein Zeugnis seines Ortspfarrers vor — und nun zweifelte 
niemand mehr. Und als die Frau erst vernahm, wie die Kinder sich fanden, weinte sie die 
hellen Tränen. 
»Mein Haus habe ich immer Luisen zugedacht", sagte sie; «es soll ihr auch bleiben, 
wenn sie gut und brav bleibt, wie bisher, und mir nicht ausartet und nicht den leichtfertigen 
Mädchen gleich wird, die, frech in Kleidung und Gebärde, nichts wisien, als sich zu putzen 
und schlechten Vergnügungen nachzulaufen, Dir aber, guter Konrad, soll deshalb doch auch 
geholfen werden. Gott hat mich mit zeitlichen Gütern gesegnet, und ich kann sie nicht bester 
anwenden, als Menschen damit glücklich machen. Ein Kupferschmied fehlt hier gerade. Der 
alte ist seit einem halben Jahre tot, und sein Haus ist feil. Das kaufe ich für dich, wenn 
bu anders imstande bist, dein Meisterstück zu machen, daß Meister und Gesellen es loben 
wüsten." 
Die Frau hatte dieses in der Freude ihres Herzens gesagt. Einige ihrer Verwandten, 
lauter reiche Leute, die aber hungriger nach Geld waren, als der Bettler nach einer Armen¬ 
luppe, wollten es ihr ausreden. Allein sie war edel und standhaft genug, ihr Wort zu halten. 
Kvnrad wurde einer der angesehensten Bürger und der würdigsten Familienväter des Ortes. 
Er hatte sich Luisens Freundin zur Hausfrau gewählt. Auch Luise ward sehr glücklich ver¬ 
heiratet. 
Konrad hatte auch seines guten Lehrmeisters nicht vergesten. Nicht nur schrieb er ihm 
von Zeit zu Zeit Briefe, in denen das dankbarste Herz wahrzunehmen war; erbezeigte seinen 
Dank auch durch die Tat. Als der brave Meister anfing zu altern, wenig mehr arbeiten 
konnte, seine Ehefrau durch den Tod verloren hatte und durch die Kriegsfälle in seinen 
Vermögensuniständen sehr zurückgekommen war, beschloß Konrad, ihn zu sich zu nehmen, 
reiste selbst zu ihm, ihn abzuholen, und behandelte ihn beständig mit einer Ehrerbietigkeit, 
Liebe und Dankbarkeit, als wäre der gute alte Mann sein leiblicher Vater. Ebenso kindlich- 
dankbar betrug Luise sich gegen ihre Pflegemutter. Die beiden alten Leute sagten gar oft: 
"Gott hat uns zwar nicht mit eigenen Kindern gesegnet; aber diese angenommenen Kinder 
wachen uns soviel Freude, daß wir auch an eigenen Söhnen und Töchtern nicht mehr Trost 
und Freude hätten erleben können". 
Die alte Kapelle im Walde ließen beide Geschwister gemeinschaftlich erneuern, und 
Conrad pflanzte auf dem schönen Hügel, auf dem sie stand, vier Linden. Auch das alte 
Gemälde. das von Alter unscheinbar geworden war, und das ein geschickter Maler aus¬ 
nehmend lobte, ward gereinigt und aufgefrischt und nahm sich nun ungemein schön aus; 
wer in die Kapelle hineintrat, ward entzückt. Sie war schön, hell und weiß, und gar freund¬ 
lich blickten der blaue Himmel und die grünen Lindenzweige durch die spiegelklaren Fenster 
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