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Die Bevölkerung der deutschen Länder wollte seit langer Zeit
auch wieder ein Kaisertum haben, das früher diele Jahrhunderte
hindurch schon in Deutschland bestanden hatte; denn mit dem Deut¬
schen Bunde, der die Stelle eines Reiches vertrat, wie wir es jetzt
haben, war man sehr unzufrieden. Daher boten die erwählten Ver¬
treter des ganzen Volkes dem Könige Friedrich Wilhelm die Kaiser¬
krone an. Aber er lehnte sie ab, weil er nicht die Zustimmung der
anderen deutschen Fürsten hatte. Erst König Wilhelm hat die deutsche
Kaiserwürde später erneuert.
3. Des Königs Ende. Kurz vor einer schweren Erkrankung,
die den König befiel und in das Grab stürzte, kam er einmal in
eine Dorfschule und hörte dem Unterrichte zu. Der Lehrer sprach
von den drei Reichen der Natur, nämlich dem Tierreiche, dem
Pflanzenreiche und dem Mineralreiche. Da fragte der gute König
ein kleines Mädchen: „In welches Reich gehöre ich denn, mein
Kind?" Die Kleine schaute ihn an, und nach einer Weile sagte sie:
„Ins Himmelreich!" Dem Könige traten vor Rührung Tränen in
die Augen. „Das wolle Gott!" sprach er.
Und Gott der Herr rief den edlen Fürsten nach einer drei¬
jährigen Krankheit aus diesem Leben. Friedrich Wilhelm starb am
2. Januar 1861 in dem Schlosse Sanssouci, wo auch Friedrich der
Große verschieden war, und wurde in der Friedenskirche zu Potsdam
bestattet. Neben ihm ruhen die irdischen Reste seiner Gemahlin
Elisabeth.
15. Wilhelm I., 1861—1888.
1* Kindheit. Wilhelm I., der nach dem Tode seines kinderlosen
Bruders Friedrich Wilhelm IV. zur Regierung kam, erblickte das
Licht der Welt am 22. März 1797 in Berlin. Unter der Obhut seiner
Mutter, der Königin Luise, verlebte er die ersten Jahre seiner Kind¬
heit meist in der ländlichen Stille des Gutes P a r e tz bei Potsdam.
Wegen seiner zarten Gesundheit nannte die königliche Mutter ihn
wohl ihr „Angstkind", und er war immer der Gegenstand ihrer be¬
sonderen Sorge. An die schönen Tage der Kindheit knüpfte sich für
den Prinzen eine Erinnerung, die er bis zu seinem Tode treu bewahrte.
Als er im Sommer 1805 seine Eltern auf einem abendlichen Spazier¬
gange begleiten durfte, pflückte er für die geliebte Mutter ein Stränß-
lein blauer Kornblumen und brachte es ihr. Da küßte ihn die Königin
und sagte: „Blau ist die Farbe der Treue; möge sie dich allzeit durchs
Leben begleiten." Seitdem war die Kornblume seine Lieblingsblume,
und Treue blieb zeitlebens seine höchste Tugend.
Als Wilhelm im zehnten Lebensjahre stand, mußte der königliche
Knabe mit Mutter und Geschwistern vor Napoleon nach Osten fliehen.