Full text: Deutsche Geschichte von der Völkerwanderung bis zum Westfälischen Frieden (Teil 3)

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§ 9. Das Ende des weströmischen Reiches. Wie ein großes 
Trauerspiel der Geschichte vollzog sich immer schneller die Zer¬ 
trümmerung des römischen Reiches. Um die Mitte des fünften 
Jahrhunderts gehörten zu ihm nur noch Italien und ein geringer 
Teil von Gallien. Gerade ein Bierteljahrhundert nach der Hunnen¬ 
schlacht auf den Katalaunischen Feldern stürzte es völlig zusammen. 
Germanische Söldner hatten den morschen Kaiserthron bislang gestützt. 
Als der junge Kaiser R6mulus,zubenanntAugüstulus, d.h. das Kaiser¬ 
lein, ihnen das geforderte Ackerland in Italien verweigerte, empörten 
sie sich und erhoben ihren Befehlshaber O d o L k a r auf den Schild. 
Als gemeiner Söldner, mit Tierfellen bekleidet, war der reckenhafte 
Mann einst aus seiner Heimat im Donaulande geschieden: als „König 
von Italien" begrüßten ihn jetzt seine Germanen. Er verwies den 
J_7fi siebzehnjährigen Romulus auf ein Landgut und siedelte seine 
Soldtruppen über ganz Italien an. 
Das war das Ende der tausendjährigen Römerherrschaft in 
statten: eine neue Zeit, das Mittelalter, hatte begonnen. 
§ 10- Theoderich. Schon nach einem halben Menschenalter 
stürzte Odoakars Söldnermacht wieder zusammen. 
Unter den O st g o t e n, die nach dem Ende der Hunnen¬ 
herrschaft an der mittleren Donau saßen, lebte damals ein vornehmer 
Jüngling, namens Theoderich oder Dietrich, d. h. Volksfürst?) 
Zehn Jahre hatte er als Geisel in Konstantinopel verbracht. Ihn 
hoben die Gotenkrieger auf den Schild. Er führte sein Volk durch die 
Alpentäler nach dem begehrten Italien2) und schlug den Odoakar ent¬ 
scheidend bei Verona; in der Sage heißt er daher Dietrich von 
Bern (= Verona). Odoakar ergab sich in dem belagerten Ravenna; 
bei einem Gastmahle tötete Theoderich ihn treulos mit eigener Hand, 
493. Diese Blutschuld hat das Herrscherleben des Gotenkönigs schwer 
belastet. 
Ein ganzes Menschenalter regierte Theoderich als „König der 
Goten und der Römer". Seine Stammesgenossen, denen er ein 
Drittel des italischen Ackerlandes überwies, bildeten das Heer; die 
Römer dagegen, die ihr eigenes Recht behielten, saßen in der Ver¬ 
waltung, trieben Handel und pflegten die Künste des bürgerlichen 
Lebens. Fremd standen sich beide Bevölkerungsteile gegenüber. 
Ihre Verschmelzung wollte dem Könige, dem sie sehr am Herzen 
lag, nicht gelingen, denn beide waren durch Religion, Sprache und 
Sitte scharf voneinander geschieden. Unter den germanischen Fürsten 
erfreute sich Theoderich eines großen Ansehens; wie ihr Oberhaupt 
*) Gedicht: Dahn, „Gotentreue." 
2) Gedicht: Dahn, „Gotenzug."
	        
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