— 6 —
§ 9. Das Ende des weströmischen Reiches. Wie ein großes
Trauerspiel der Geschichte vollzog sich immer schneller die Zer¬
trümmerung des römischen Reiches. Um die Mitte des fünften
Jahrhunderts gehörten zu ihm nur noch Italien und ein geringer
Teil von Gallien. Gerade ein Bierteljahrhundert nach der Hunnen¬
schlacht auf den Katalaunischen Feldern stürzte es völlig zusammen.
Germanische Söldner hatten den morschen Kaiserthron bislang gestützt.
Als der junge Kaiser R6mulus,zubenanntAugüstulus, d.h. das Kaiser¬
lein, ihnen das geforderte Ackerland in Italien verweigerte, empörten
sie sich und erhoben ihren Befehlshaber O d o L k a r auf den Schild.
Als gemeiner Söldner, mit Tierfellen bekleidet, war der reckenhafte
Mann einst aus seiner Heimat im Donaulande geschieden: als „König
von Italien" begrüßten ihn jetzt seine Germanen. Er verwies den
J_7fi siebzehnjährigen Romulus auf ein Landgut und siedelte seine
Soldtruppen über ganz Italien an.
Das war das Ende der tausendjährigen Römerherrschaft in
statten: eine neue Zeit, das Mittelalter, hatte begonnen.
§ 10- Theoderich. Schon nach einem halben Menschenalter
stürzte Odoakars Söldnermacht wieder zusammen.
Unter den O st g o t e n, die nach dem Ende der Hunnen¬
herrschaft an der mittleren Donau saßen, lebte damals ein vornehmer
Jüngling, namens Theoderich oder Dietrich, d. h. Volksfürst?)
Zehn Jahre hatte er als Geisel in Konstantinopel verbracht. Ihn
hoben die Gotenkrieger auf den Schild. Er führte sein Volk durch die
Alpentäler nach dem begehrten Italien2) und schlug den Odoakar ent¬
scheidend bei Verona; in der Sage heißt er daher Dietrich von
Bern (= Verona). Odoakar ergab sich in dem belagerten Ravenna;
bei einem Gastmahle tötete Theoderich ihn treulos mit eigener Hand,
493. Diese Blutschuld hat das Herrscherleben des Gotenkönigs schwer
belastet.
Ein ganzes Menschenalter regierte Theoderich als „König der
Goten und der Römer". Seine Stammesgenossen, denen er ein
Drittel des italischen Ackerlandes überwies, bildeten das Heer; die
Römer dagegen, die ihr eigenes Recht behielten, saßen in der Ver¬
waltung, trieben Handel und pflegten die Künste des bürgerlichen
Lebens. Fremd standen sich beide Bevölkerungsteile gegenüber.
Ihre Verschmelzung wollte dem Könige, dem sie sehr am Herzen
lag, nicht gelingen, denn beide waren durch Religion, Sprache und
Sitte scharf voneinander geschieden. Unter den germanischen Fürsten
erfreute sich Theoderich eines großen Ansehens; wie ihr Oberhaupt
*) Gedicht: Dahn, „Gotentreue."
2) Gedicht: Dahn, „Gotenzug."