Das karolingische Staatswesen. IY. Lehnswesen u. Immunität. Stand. Verhältn. 617
Jahrhundert wurde die Immunität auch über die inmitten der kirchlichen Be¬
sitzungen gelegenen Höfe und Fluren freier, nicht kirchenhöriger Leute aus¬
gedehnt. Diese Erweiterung des örtlichen Umfangs der Immunität aber hängt
wieder aufs engste mit dem der Immunität überhaupt zu Grunde liegenden Ge¬
danken zusammen; denn der gefreite Bezirk der Kirche konnte leicht verletzt
werden, wenn die öffentlichen Richter auf den rings von Kirchenland umschlossenen
Gütern freier Leute Amtshandlungen Vornahmen. Auf die Weiterentwickelung
der Immunität waren die politischen Umbildungen, welche sich im karolingischen
Zeitalter vollzogen, von hervorragendem Einflüsse. Je gröfser die Entfremdung
zwischen den Beamten imd dem Könige wurde, je mehr die Grafschaften aus
Beamtungen des Reiches zu erblichen Grundherrschaften wurden imd die Grafen
sich der Kontrolle des Königs entzogen, um so lebhafter machte sich das Be¬
dürfnis geltend, die durch den harten Druck der Grafengewalt bedrohte Freiheit
der kleineren Grundbesitzer dadurch in Schutz zu nehmen, dafs man sie dem
direkten Gerichtszwang derselben entzog und unter die Obhut der Kirche stellte.
Die Kirche selbst, deren Grundbesitz durch zahlreiche Schenkungen eine grofs-
artige Ausdehnung gewonnen hatte, mufste ein Interesse daran haben, von ihren
Grundholden und freien Zinsleuten möglichst jeden ändern Einflufs fern zu hal¬
ten und darum der Thätigkeit des Grafen die engsten Schranken zu ziehen.
Ihrem Streben nach Abrundung und Abschliefsung ihres Gebietes, wodurch allein
eine einheitliche Ordnung des Verwaltungssystems möglich wurde, kam die
Sehnsucht der kleinen Grundbesitzer entgegen, von dem durch die öffentlichen
Beamten in eigennütziger Absicht ausgeübten Druck frei imd der mannigfachen
Vorteile teilhaftig zu werden, welche die Immunitätsleute vor den ändern vor¬
aus hatten. Diese Vorteile aber bestanden wesentlich in zwei Punkten: einmal
darin, dafs die Immunitätsleute von dem Grundherrn gröfsere Nachsicht erwarten
konnten, als von dem Grafen, der unnachsichtlich den Gerichtszwang gegen sie
ausübte, und sodann darin, dafs die Verteilung der Leistungen auf die Ein¬
gesessenen des Immunitätsbezirkes mit gröfserer Gerechtigkeit und Einheitlich¬
keit erfolgen konnte. So trug die Immunität wesentlich zur Stärkung der grund-
herrlichen Rechte bei; indem sich aber der König zu gunsten der geistlichen
Grundherren gewisser Rechte und Einnahmen entäufserte und die Zahl seiner
direkten Unterthanen verringerte, gewann er auf der ändern Seite die Möglich¬
keit, an die Grundherren gröfsere Anforderungen zu stellen und ‘die Hilfsquellen
des Staates in indirekter Weise besser zu erhalten, als es auf direktem Wege
durch Abgabenerhebung seitens der Grafen möglich war.’1 Von diesem Stand¬
punkte aus betrachtet, stellen sich die Immunitätsprivilegien dar ‘als ein Ver¬
such, in die auf den freien Unterthanenverband gegründete Verfassung die neu
1) Heusler 29.