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Anhang.
überhaupt der Schwerpunkt der merowingischen Regierung lag, während die
deutschen Völker des Ostens mehr als unterworfene Stämme, denn als lebendige
Glieder des Reiches betrachtet und behandelt wurden.1 Das wurde anders, als
die Karolinger an das Ruder kamen. Durch ihre Abstammung selbst den Austra-
siern zugehörig, sahen sie eine der vornehmsten Aufgaben ihrer Politik darin,
die beiden bisher nur lose miteinander verbundenen Reichsteile in engere Be¬
ziehung zu einander zu setzen und ihre Verschmelzung zu einem Reiche herbei¬
zuführen. Indem aber nun die schon weit vorgeschrittene neustrische Kultur
auch in Austrasien eindrang und die noch schlummernden Kulturkräfte des
deutschen Ostens weckte, wurde auch dieser ‘unaufhaltsam in jene Richtung der
sozialen Entwickelung gedrängt, welche in Neustrien schon längst der Königs¬
herrschaft so gefährlich geworden war.’2 Vor der neuen Aristokratie, welche
sich aus denen zusammensetzte, die aus Überzeugung oder aus Eigennutz sich
in den Dienst der Karolinger und ihrer politischen Ziele stellten, mufsten Stam¬
mesfürstentum und Stammesadel den Platz räumen. Mit diesem Hof - und Dienst¬
adel aber verband sich auch hier die zahlreiche Beamtenschaft, welche die karo¬
lingische Verwaltung nötig machte, und aus beiden Elementen erwuchs eine
sozial und politisch bevorzugte Klasse, die sich schnell durch Macht und Ein-
flufs, wie durch Besitz und Herrschaft über Land und Leute auszeichnete. So
sehr die Karolinger es sich angelegen sein liefsen, die selbständigen Gewalten im
Reiche zu brechen, und darum in Deutschland die Stammesherzogtümer auf¬
hoben, in Neustrien die Grafen wieder in die Stellung von Beamten zurück¬
drängten: so sind sie doch der Bildung einer neuen Aristokratie nicht hindernd
entgegengetreten, schon weil sich dieselbe im engsten Anschlufs an das Reich
und an das zur Herrschaft gelangte Geschlecht vollzog. Nur in Sachsen und
Friesland behauptete sich der Geburtsadel auch nach der karolingischen Eroberung
im Besitze der Macht; ja Karf- tL..Gr. vermehrte seinen Einflufs noch durch die
Verleihung von Grafenämtern an die sächsischen Edelinge.3 Der neue Reichs¬
adel oder, wie die Quellen ihn nennen, die Grofsen des Reiches (proceres regni,
auch optimates, principos) ,4 war auch unter den Karolingern nicht ohne Ein¬
flufs. Bei allen wichtigeren Regierung imafsregeln bez. Staatsangelegenheiten war
die Einholung seiner Zustimmung nicht wohl zu umgehen, und selbst Karl d. Gr.,
der doch so entschieden die Rechte der Souveränität in Anspruch nahm, hat
1) Vgl. Inama-Sternegg I, 227 f.
2) Inama-Sternegg I, 228.
3) Vgl. darüber Waitz III, 148 f. IV, 324 f.; aucli das höhere Wergeid behielt der Adel bei Sachsen
und Friesen, wie die aus karolingischer Zeit stammenden Volksrechte der Sachsen und Friesen beweisen. Bei
den. Sachsen hatte der Edeling das sechsfache Wergeid des Freien (vgl. dazu Waitz III, 149 n. 1), bei den
Friesen das anderthalbfache, Waitz IV, 325 n, 1.
4) Vgl. die Zusammenstellung aus den Quellen bei Waitz IV, 327 n. 1.