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aber nicht selten ihre Macht in ganz ungeistlicher Weise. Die Geist¬
lichen waren durch den Eölibat, die Ohrenbeichte, die Verwaltung
des Messopfers und die Befreiung von der weltlichen Gerichtsbar¬
keit aus allen übrigen Ständen herausgehoben. Da sie auch fast
ausschließlich im Besitz der Bildung waren, so sah das Volk sie als
etwas Höheres an. Weil Schenkungen an die Kirche und ihre
Diener als besonders verdienstliche Werke galten, da auch die Für¬
sten durch Bewilligung von Vorrechten und Besitzschenkungen die
Gunst des geistlichen Standes erkauften, so wuchs dessen Herrschsucht
über Gebühr, während die geistlichen Pflichten immer mehr vernach¬
lässigt wurden.
4. Das Mönchs- und Nonnenwesen griff immer mehr
um sich. An allen günstig und schön gelegenen Punkten entstanden
Klöster. Anfänglich übten sie einen heilsamen Einfluss durch Kulti-
virung des Bodens, Unterricht >s Volkes, Pflege der Kranken,
Studium der Wissenschaften und Übung der Künste; später aber ent¬
arteten sie zu Stätten der Trägheit und des Genusses, ja der Laster..
Am verdientesten machten sich die Benedict ine r; am strengsten
war die Regel der Karthäuser, besonders der Trappisten, denen so¬
gar das Sprechen verboten war. Andere Orden sind: Franziskaner,
Dominikaner uud Augustiner.
5. Die Dichtkunst erreichte unter den Hohenstaufen ihre
erste Blütezeit. Die Minnefänger sangen von edler Minne oder
Liebe, von den Thaten der Helden und dem Wohl und Wehe des
Vaterlandes. Am höchsten steht unter ihnen Walther v. d. Vogel¬
weide. Wolfram v. Eschenbach singt im „Parzival" den
höchsten Glanz weltlichen Ritterthums und die tiefste Versenkung in
das Heil im Christenthume. Gottfried v. Straßburg entwirft
in „Tristan und Isolde" ein lockendes Bild des Lebensgenusses und
Hartmann v. d. Aue im „Armen Heinrich" ein rührendes Ge¬
mälde der Selbstverleugnung. Ein Bild des damaligen Lebens und
Strebens giebt uns der „Sängerkrieg auf der Wartburg". Der
Dichter ging mit dem Könige, und die Fürsten wetteiferten um den
Lorbeer der Dichter. In jener Zeit entstanden aus Volkssagen und
Volksliedern unsere größten Epen: „Nibelungenlied und Gndrun".
In den Städten bildete sich der Meistersang aus, indem die ehr¬
samen Handwerksmeister allsonntäglich zusammen kamen, um in Sing¬
schulen ihre Lieder singend und sagend vorzutragen. Regeln und
Fehler standen auf der Tabulatur verzeichnet, und die Merker
waren die Preisrichter. Die höchste Leistung des Meistersanges zeigte
uns der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs.
6. Die Baukunst. Der gothische oder deutsche Baustil mit
den Spitzbogen entwickelte sich zur höchsten Blüte. Er suchte in