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Zehn Lesestücke aus der geographischen Literatur.
Tunnel ganz gleichbedeutend mit einem Passe, und eine Durchbohrung des Moni
Cenis gilt der Wirkung nach ganz gleich mit der Erniedrigung der Paßhöhe in den
Alpen. So mögen denn diese Beispiele den Ausdruck rechtfertigen, daß bei einer
erstarkten Gesittung die Erdräume zu Kunstprodukten sich veredeln und eine höhere
Organisation aus der Hand des Menschen empfangen.
Von allen Weltteilen am kümmerlichsten ausgestattet, halb und halb zur Seite ge¬
drückt und vernachlässigt, erscheint uns Australien. Nirgends ist der Keim menschlicher
Gesittung auf einen unwilligeren Boden gefallen als dort, und doch zweifelt kein
Verständiger daran, daß bei der jetzigen Beherrschung der Naturkräfte die europäischen
Ansiedelungen auch dort so gut gedeihen können als anderswo, daß auch Australien
die Heimat großer Künstler, begabter Staatsmänner sowie genialer Denker werden
könne, und daß, wenn diese Hoffnung sich bald, spät oder nie erfüllen sollte, dies nur
an den Australiern liege. Daraus aber schöpfen wir die tröstliche Erkenntnis, daß mit
den wachsenden geistigen Schätzen die Herrschaft des Menschen über die Natur immer
größer und seine Abhängigkeit von den örtlichen Verhältnissen immer geringer werde.
4. Die Verbreitung der organischen Wesen durch Menschen.
Von Alfred Kirchhoff („Pflanzen- und Tierverbreitung", Wien 1899).
Weit ausgiebiger als der Transport durch Naturkräfte (Luft, Wasser und Tiere)
ist die absichtliche oder unabsichtliche Verbreitung lebender Wesen durch
den menschlichen Verkehr. Hierher gehören vor allem die Haustiere und Kultur-
pflanzen, deren Verbreitung über einen großen Teil der Erdoberfläche in der Absicht
des Menschen liegt und insofern eine künstliche genannt werden kann. In hochkulti-
vierten Ländern ist der Boden zum weitaus größten Teil mit einer künstlichen Vege-
tation (mit Äckern, Gärten, Plantagen, Alleen, Kulturwiesen, Kulturwäldern usf.)
bedeckt, und eine Vielzahl der höheren Tiere daselbst sind Haustiere. Sehr oft geht
ein Teil der Haustiere und Kulturpflanzen in einen vom menschlichen Einfluß unab-
hängigen Zustand über, Haustiere und Kulturpflanzen verwildern. Finden sie nun
in einem Lande passende EMenzbedingungen, so vermehren sie sich daselbst unab-
hängig vom Menschen und können unter Umständen sich bleibend einbürgern. Dies
geschieht nicht nur bei den im großen gezüchteten Haustieren und Kulturpflanzen,
sondern nicht selten verbreiten sich auch solche, die nur in wenigen Exemplaren in
Tiergärten, in botanischen oder Ziergärten gehalten wurden, als Flüchtlinge weit
über die Grenzen der ersten Ansiedelung. Bisweilen werden auch absichtlich Tiere
und Pflanzen an geeigneten Stellen ausgesetzt, damit sie sich von da aus selbständig
verbreiten. Hierauf gründet sich die Einteilung der Pflanzen und Tiere in ursprüng-
liche oder einheimische, in kultivierte oder gezüchtete, in verwilderte
Flüchtlinge und in Fremdlinge (zufällig vorkommende) und endlich in einge-
bürgerte (naturalisierte).
Mit den Haustieren und Kulturpflanzen wird aber durch die menschliche Tätig-
keit unabsichtlich eine große Menge von Tieren und Pflanzen verbreitet, die dem
Menschen gegen seinen Willen allenthalben folgen und sich oft trotz aller Mühe nicht
gänzlich ausrotten lassen. Hierher gehören gewisse Raubtiere, Nagetiere, äußere und
innere Parasiten, vor allem das Heer des sogenannten Ungeziefers und der Unkräuter.
Aasgeier folgen den Karawanen, Delphine und Haifische den Schiffen. Mäuse und
Ratten werden durch Schiffe in alle Weltteile und auf alle Inseln verbreitet; der
Haussperling folgt dem Getreidebau; die Stubenfliege und andere Insekten