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10. Zeus und das Schaf.
(Gotthold Ephraim Lessmg.)
Das Schaf mußte von allen Tieren viel leiden. Da trat es
vor den Zeus und bat, sein Elend zu mildern. Zeus schien willig
und sprach zu dem Schafe: „Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf,
ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem
Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit schreck¬
lichen Zähnen und deine Füße mit Krallen ausrüsten?" — „O nein,"
sagte das Schaf: „ich will nichts mit den reißenden Tieren gemein
haben." — „Oder." fuhr Zeus fort, „sott ich Gift in deinen Speichel
legen?" — „Ach!" versetzte das Schaf, „die giftigen Schlangen werden
ja so sehr gehaßt." — „Nun, was soll ich denn? Ich will Hörner
auf deine Stirn pflanzen und Stärke deinem Nacken geben." —
„Auch nicht, gütiger Vater, ich könnte leicht so stößig werden wie
der Bock." — „Und gleichwohl," sprach Zeus, „mußt du selbst schaden
können, wenn sich andere dir zu schaden hüten sollen." — „Müßte
ich das?" seufzte das Schaf. „O so laß mich, gütiger Vater, wie
ich bin! Denn das Vermögen schaden zu können erweckt, fürchte ich,
die Lust schaden zu wollen; und es ist besser Unrecht leiden als Un¬
recht thun." Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von
Stunde an zu klagen.
11. Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
(Nach Äsop.)
Als der Löwe alt geworden war, befiel i^n eine Krankheit, die
ihn an seine Höhle fesselte. Alle Tiere des Waldes kamen, um ihn
als ihren König zu besuchen; nur der Fuchs war fern geblieben und
hatte sich nicht sehen lassen. Diese Gelegenheit ergriff der Wolf. der
dem Fuchs schon lange zu schaden suchte. Er sprach zu dem Löwen,
daß der Fuchs alleiu ihn als den Herrn und Gebieter nicht aner¬
kenne, daher ihm auch aus Mißachtung die schuldigen Beileidsbezeu¬
gungen nicht zu teil werden lasse. Auf solche Weise nahm er den
Löwen gegen den Fuchs ein, daß dieser bei dem Könige in Ungnade
fiel. Als der Fuchs inzwischen gekommen war, fuhr ihn der Löwe
mit zorniger Stimme an. Aber der Fuchs, der die letzten Worte
des Wolfes noch gehört hatte, bat den König, ihm zu seiner Recht¬
fertigung und Verteidigung das Wort zu verstatten. Und als er
dazu die Erlaubnis erhalten hatte, sprach er: „Ich komme allerdings