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der Frauen grössere Heiligkeit zu erlangen, und vielleicht hängt damit
noch zusammen, dass die Sprache Tugenden und Laster durch Frauen
allegorisiert. Wenn es in der Natur des Menschen überhaupt ge¬
legen ist, dem weiblichen Geschlecht eine .höhere Scheu und Ehr¬
furcht zu beweisen, so war sie den deutschen Völkern von jeher
besonders eingeprägt.
Die Hauptbestimmung der zwischen Göttern und Menschen
vermittelnden Halbgöttinnen war die, den sterblichen Menschen
Heil oder Unheil, Sieg oder Tod anzusagen. Ihre Weisheit erspäht,
ja sie lenkt und ordnet Verflechtungen unseres Schicksals, warnt vor
Gefahren und rät in zweifelhafter Lage; sie heissen darum kluge,
weise Frauen. Als die ältesten werden von Tacitus Aurinia und
Veleda erwähnt.
Von den drei Schicksalsgöttinnen enthält die Edda einen ab¬
geschlossenen , tiefsinnigen Mythus. Sie heissen gemeinschaftlich
Nomen, einzeln aber Urdhr, Verdhandi, Skuld d. b. Schicksalsgöttinnen
der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Lehre von ihnen
war ursprünglich unter allen deutschen Völkern einheimisch. Man
stellte sie sich spinnend und webend vor. Jedem neugeborenen
Kinde nahen sie und fällen über es ihr Urteil; doch kann, was
vorausgehende Begabungen Günstiges verheifsen, durch eine nach¬
folgende zum Teil wieder vereitelt werden.
Bei den romanischen Völkern geht von den Feeen eine Menge
Sagen, die mit dem deutschen Volksglauben zusammentreffen. Drei
Feeen wohnen unten in einer Felsenschlucht und begaben hinab¬
steigende Kinder. Feeen erscheinen bei Neugeborenen und drücken
sie an ihre Brust; es giebt sieben Feeen im Land, mau bittet sie
zu Paten und bereitet ihnen Ehrensitze am Tisch; als schon sechse
Platz genommen hatten, war die siebente vergessen worden, die
nun erscheint und, während jene günstig begaben, ihre Ver¬
wünschungen murmelt. Im deutschen Kindermärchen (Dornröschen)
sind es zwölf weise Frauen, die dreizehnte hatte man übersehen.
Die weisen Frauen des germanischen Altertums sind nicht nur
Lenkerinnen menschlicher Schicksale, nicht nur urteilende Nomen,
sie haben noch ein anderes Amt. Sie stehen der Schlacht vor, sie
weissagen und bringen den Kämpfern Sieg oder Verderben. Hiervon
heissen solche halbgöttliche Jungfrauen Walküren. Es besteht eine
Gemeinschaft der Nomen und Walküren, eine Halbgöttin kann