Sein Tod
9. HI. 1888.
Sein Tod
15. VI. 1888.
124 Die Entwicklung der heutigen Großmächte von 1850 bis zur Gegenwart.
lang als „Deutscher Kaiser" zeigen. Es galt das Altgewohnte, die seit
Jahrhunderten bestehenden Eigenheiten territorialer und volkstümlicher
Art, mit schonender Hand zu bewahren und doch die Bedürfnisse
und Forderungen des neuen Zeitalters zu erkennen und die vor¬
wärtsdrängenden Kräfte zur Wohlfahrt des Ganzen zu sammeln.
Die Einheit im Heerwesen, im Rechts, im Wirtschaftsleben
und in der Vertretung nach außen, das waren die großen Gesichts¬
punkte, die Kaiser Wilhelm seiner Reichspolitik zugrunde legte. Während'
seine treuen Gehilfen in rastloser Arbeit die Ausführung dieser Pläne
in die Wege leiteten — Bismarck und Moltke standen ihm bis an
sein Lebensende zur Seite, Ro on widmete dem jungen Reiche noch seine
Kräfte —, steuerte Kaiser Wilhelm I. das Staatsschiff mit ruhiger Hand
durch die Wogen eines unruhigen und aufregenden Weltmachtgetriebes,
durch seine milde, vornehme Persönlichkeit die Gegensätze im Innern
ausgleichend und selbst das feindliche Ausland beschwichtigend und
gewinnend. Im deutschen Volke aber stärkte seine Regierungsweise
und sein echt königliches Wesen das monarchische Gefühl, in dem
die Gewähr für die Gesundheit unsrer Nation liegt. Und fast die ganze
Welt nahm Anteil an der nationalen Trauer, als der erste deutsche
Kaiser im Alter von säst 91 Jahren starb. Zwei Pflichten aber vor
allem hinterließ Kaiser Wilhelm I. seinen Nachfolgern und dem deut¬
schen Volke: die Großmachtstellung Deutschlands in Ehren zu
bewahren und die Wohlfahrt der wirtschaftlich Schwachen zu fördern.
2. Kaiser Friedrich III. war es nicht beschieden, die Zügel der
Regierung in die Hand zu nehmen. Schon beim Tode seines Vaters
von unheilbarer Halserkrankung ergriffen, quälte er sich noch 99 Tage
in heldenmütig ertragenem Siechtum dahin: am 15. Juni verlor das
deutsche Volk in demselben Jahre den zweiten Kaiser. Selten ist einem
Kaisersohne und Thronfolger so viel Liebe vom Volke entgegengebracht
worden wie „unserm Kronprinzen". Als Sieger von Königgrätz,
Weißenburg und Wörth verkörperte er die kriegerische Natur des ger¬
manischen Volkstums; mit seiner gewinnenden Persönlichkeit trug er
viel zum innigeren Anschluß der Süddeutschen, deren Führer er im
großen Kriege gewesen war, an das neue Reich bei; sein liebevolles
Verständnis für Kunst und Wissenschaft (Museumsbauten, Olympia¬
forschung) ließen ein augusteisches Zeitalter, seine und seiner Gemahlin
Viktoria warmherzige Tätigkeit auf dem Gebiete gemeinnütziger
Wohlfahrtsbestrebungen (Arbeiterkolonien, Fortbildungsschulen) den
Ausbau des sozialen Kaisertums erhoffen. So ist es verständlich, daß
das deutsche Volk in allen seinen Teilen große Hoffnungen an die
Regierung des geliebten Fürsten geknüpft hatte.
1) 1900 wurde das „Bürgerliche Gesetzbuch" für ganz Deutschland eingeführt.