10 —
es halb unter die Armen und ließ von der andern Hälfte eine Kirche daselbst
bauen. Diese Geschichte ward zum ewigen Andenken in Stein gehauen und
ist noch heutzutage in der Dreifaltigkeitskirche zu Reichenau in Böhmen
zu sehen.
21. Der Rabe und der Puchs.
(Gotthold Ephraim Lessing.)
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisoh, das der erzürnte
Gãrtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen
Klauen fort. Eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren,
als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: „Sei mir gesegnet,
Vogel des Juppiter!“ — „Für wen siehst du mieh an?“ fragte der
Rabe. — „Für wen ieh dich ansehe?“ erwiderte der Puchs. „Bist
du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus
auf diess Eiche herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum
verstellst du dich? dehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue
die erflehte Gabe, die mir dein Gott dureh dieh zu schicken noch
kortfãhrt ?
Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler
gehalten zu werden. „Ich muls,“ dachte er, „den FPuchs aus diesem
Irrtum nicht bringen.“ Grossmütig dumm liess er ihm also seinen
Raub herabfallen und flog stolæ davon. Der Fuchs fing das Pleisch
lachend auf und frals es mit boshafter Freude. Doch bald ver-
kehrte sich die Preude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing
an zu wirken, und er verendete.
Möchtet ihr euch nie etwas Anderes als Gift erloben, ehrlose
Schmeichler!
22. Der Wolf und der Mensch.
(Gebr. Grimm.)
Der Fuchs erzählte einmal dem Wolfe von der Stärke des Menschen.
Kein Tier, sagte er, könnte ihm widerstehen, und sie müßten List gebrauchen,
um sich vor ihm zu erhalten. Da antwortete der Wolf: „Wenn ich nur
einmal einen Menschen zu sehen bekäme, ich wollte doch auf ihn losgehen.“
„Dazu kann ich dir verhelfen,“ sprach der Fuchs; „komm nur morgen früh
zu mir, so will ich dir einen zeigen.“ Der Wolf stellte sich frühzeitig ein,
und der Fuchs brachte ihn hinaus auf den Weg, den der Jäger alle Tage
ging. Zuerst kam ein alter, abgedankter Soldat. „Ist das ein Mensch?“
fragte der Wolf. „Nein,“ antwortete der Fuchs, „das ist einer gewesen.“
Darnach kam ein kleiner Knabe, der zur Schule wollte. „Ist das ein
Mensch?“ — Nein, das will erst einer werden.“ — Endlich kam der
Jäger, die Doppelflinte auf dem Rücken und den Hirschfänger an der Seite.
Da sprach der Fuchs zum Wolfe: „Siehst du, dort kommt ein Mensch;
auf den mußt du losgehen; ich aber will mich fort in meine Höhle machen.“
Der Wolf ging nun auf den Menschen los. Der Jäger sprach, als
er ihn erblickte: „Es ist schade, daß ich keine Kugel geladen habe,“ legte
an und schoß dem Wolfe das Schrot ins Gesicht. Der Wolf verzog das