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daß ich noch über dem Wasser schwebte. Meine Gefährten hatten mich kaum
aus dem Gesichte verloren, als sie mir angstvoll zuriefen; und da sie hörten,
daß ich noch lebte, versprachen sie mir, Alles zu meiner Rettung zu thun, was
ihnen möglich wäre. Voll Verlangen, mir zu helfen, liefen nun die Lieben,
so schnell als die Gemse, eine Meile weit bis zu der nächsten Hütte, während
ich, zwischen Furcht und Hoffnung auf meine ausgebreiteten Arme und Schenkel
an den Eiswänden gestützt, über dem Wasser schwebte. Ich sank aber mit der
Zeit immer tiefer; schon kam der Strom mir bis an die Kniee, ich war vor
Kälte fast erstarrt und erwartete nichts anders als den Tod.
Nach Verlaus einiger Stunden hörte ich meine treuen Gefährten mich an¬
rufen. Sie hatten in der nächsten Hütte einen Strick gesucht, und da sie keinen
gefunden, hatten sie eine Bettdecke in Riemen geschnitten, diese zusammenge¬
knüpft und so ein Seil verfertigt. Dieses ließen sie hinunter, und ich band
mir dasselbe mit vieler Mühe um den Leib.
Nun zogen sie mich mit vereinten Kräften so weit aus dem Spalt herauf,
daß sie mich beinahe mit den Händen erreichen konnten. Aber plötzlich zerriß
der Strick, und ich mit einem Theil deffelben um den Leib, glitschte unaufhalt¬
bar wieder hinunter, eben so tief als vorher. Jetzt war die Noth noch größer,
nicht nur darum, weil der Strick kürzer geworden war, sondern auch, weil ich
bei diesem zweiten Fall einen Arm gebrochen hatte, und also um so weniger
Kraft behielt, selbst etwas zu meiner Rettung beizutragen. Dennoch entfiel
uns der Muth nicht. Sie schnitten die Riemen noch einmal entzwei, um den
Strick wieder zu verlängern. Dann warfen sie ihn mir zum zweiten Mal hin¬
unter. Von Gott gestärkt, war ich noch behende genug, ihn mit einem Arm
mir um den Leib zu knüpfen. Und mit diesem noch schwächeren Strick waren
meine Freunde endlich so glücklich, mich aus dem bereits offenen Grabe heraus
an das helle Tageslicht zu ziehen.
Sollte ich denn wohl jemals in meinem Leben diese göttliche Hülfe ver¬
gessen? Sollte ich nicht, so oft ich an dieser Stelle vorbeigehe, dem Herrn,
meinem Erretter, Gebete und Thränen des Dankes zum Opfer bringen?"
Ps. 103, 2. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir
Gutes gethan hat.
88. Die Mönche ans dem St. Dernhar-sberge.
Von der Schweiz gehen über die Alpen mancherlei Wege nach
Italien, z. B. einer über den St. Bernhard. Am Fuße dieser Ge¬
birgsstraße ist die Landschaft sehr angenehm. Quellen, Bäche und
Flüsse wässern den Boden; allenthalben gibt es Fruchtfelder, Gärten,
Weinstöcke und Obstbänme, so daß es ein Vergnügen ist, da zu leben