Ferdinand Freiligrath.
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Am Baum der Menschheit.
Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt' an Blüte,
Nach ew'gen Regeln wiegen sie sich drauf;
Wenn hier die eine matt und welk verglühte,
Springt dort die andre voll und prächtig aus.
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen,
Und nun und nimmer träger Stillestand.
Wir sehn sie aus-, wir sehn sie niederwehen,
Und jede Blüte ist ein Volk, ein Land.
Wir, die wir wandeln noch auf jungen Sohlen,
Sahn doch schon manche sterbend und geknickt.
Vom Steppengeier ward die Rose Polen
Vor unsern Augen wild und grün zerpflückt!
Durchs Laub Hispanien ernst auf ihrem Gange
Stürmt die Geschichte — ob es fallen muß?
Ob nicht ein andres, morsch und faul schon lange
Zerflatternd hinsanst übern Bosporus?
Doch neben diesen, die des Weltgeists Weben
Vom Aste schüttelt mit gewalt'ger Kraft,
Seh'n wir ans Licht auch andre Triebe streben,
Helläugig, freudig, voll von jungem Saft.
O, welch ein Sprossen, welch ein reich Entfalten!
O, welch ein Drang in alt und neuem Holz!
Wie manche Knospe sahn auch wir sich spalten,
Wie manche Platzen, laut und voll und stolz!
Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!
Regt sich's im Schoß! dem Bersten scheint sie nah —
Frisch, wie sie Hermann auf den Weserwiesen,
Frisch, wie sie Luther von der Wartburg sah!
Ein alter Trieb! Doch immer mutig keimend,
Doch immer lechzend nach der Sonne Strahl,
Doch immer Frühling, immer Freiheit träumend —
O, wird die Knospe Blume nicht einmal?
Ja, voller Kelch! — dafern man nur nicht hütet,
Was frei und freudig sich entwickeln muß!
Dafern man nicht, was die Natur gebietet,
Für Ranke nimmt und eitel wilden Schuß!