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Friedrich Paulscn.
mit den Alten, „diesen Altvätern der menschlichen Geistesbildung, diesen
ewigen Mustern des richtigen, guten und geübten Geschmacks und der
schönsten Fertigkeit im Gebrauch der Sprache; an ihnen müssen wir
unsere Denk- und Schreibart formen, nach ihnen müssen wir, Menschen
nützlich zu werden, unsere Vernunft und Sprache bilden. Wer das ge¬
than hat, dem ist der Sinn der Humanität, d. i. der echten Menschen-
vernunft, der reinen menschlichen Empfindung aufgeschlossen, und so
lernt er Richtigkeit und Wahrheit, Genauigkeit und innere Güte über
alles schätzen und lieben, kurz, er wird ein gebildeter Mensch sein und
sich als solcher im Kleinsten und Größten zeigen." Darum heißt eben
das Studium der Alten das Studium der humaniora. Herder setzt
ihnen entgegen die galantiora, bei denen „mancher so weit kommt, daß
er sogar seine Sprache vergißt und weder grammatisch noch ortho¬
graphisch zu schreiben weiß." Er denkt offenbar an die Erziehung
durch allerlei französische Erziehungskünstler, wie sie in höfischen Kreisen
und beim Adel seit anderthalb Jahrhunderten in Übung gekommen war.
Man sieht, bei beiden Schriftstellern steht Bildung im Gegensatz
zur Abrichtung. Abrichtung findet statt, wo die Erziehung lediglich die
Brauchbarmachung des Zöglings zu einem zufälligen und äußeren Zweck,
zu einer Profession oder die Formung nach irgend einem konventionellen
Modell, z. B. einer Konfession oder eines Standes, zur Absicht hat.
Hierbei verkümmert der Mensch als solcher; und das ist im Grunde
in allen bisherigen Schulen der Fall: in den Lateinschulen findet
Dressur zur Latinitüt, in den Volksschulen zur Konfessionalität, in den
vornehmen Häusern zur Konduite und Galanterie statt. Es ist
Rousseaus Klage: die „Gesellschaft" nimmt von klein auf das Kind
in Beschlag und läßt es nicht zu sich selber, zur natürlichen Entwicke¬
lung seines Wesens kommen. Dem gegenüber verlangt er und mit
ihm die deutsche Reformpädagogik, daß die Erziehung der freien Ent¬
wickelung aller Anlagen Raum lasse und Unterstützung biete; so wird
eine wahrhaft menschliche Gestalt oder Bildung herauskommen. Bildung
bezeichnet also das neue Erziehungsideal; die natürliche, durch organische
Entwickelung frei sich bildende, alle Seiten des menschlichen Wesens in
gesunder Fülle zeigende, vollendete Menschengestalt im Gegensatz zu der
verkrüppelten Gestalt, die das Ergebnis konventioneller Dressur ist.
In diesem Sinne sagt Fr. Schlegel einmal: „das höchste Gut und das
allein Nützliche ist die Bildung." (Athenäum I, 9.)
Pestalozzi trägt das Ideal freier, allgemein menschlicher Bildung
in die Volksschule, Herder stellt es den Gelehrtenschulen vor Augen.
Er findet das Urbild solcher Bildung in den Alten, vorzüglich in den
Griechen. Und das ist nun der Ton, der uns aus zahllosen Schriften jeder
Gattung in dieser Zeit entgegenklingt: freie und allseitige Bildung des