Full text: Abriß der Allgemeinen Erdkunde, Erdkundliches Lesebuch (H. 4)

II. Erdkundliches Lesebuch. 
weisen eine dichte Bevölkerung und große Produktion, und in der Tat 
zeichnet sich das Tal in beiden Hinsichten aus. Die Zahl der Ortschaften 
ist groß, und jedes, auch das kleinste Dorf, ist mit einer Umfassungsmauer 
umgeben, wie dies überhaupt seit Tai-ngan-fn allgemein war. Diese 
Mauern wurden meist nach der letzten Rebellion, aber erst seit zwei Jahren 
erbaut. Sie geben den Ortschaften ein stattliches Aussehen, raubeu ihnen 
aber den ländlichen, friedlichen Charakter. Sie sind aber auch klägliche 
Monumente der Schwäche einer Regierung, welche selbst gegen solche 
Rebellen nicht stand zu halten vermag, denen diese dünnen Mauern zu 
stark wären. Es ist immer ein trauriges Zeichen, wenn Mauern den 
stärksten Schutz gewähren! Die meisten Mauern sind aus Lehmziegeln 
erbaut, mit stattlichen Toren und großen Türen, die in allen Städten des 
Nachts verschlossen werden. 
Die Produktionskraft des Bodens ist sehr bedeutend; er ist ungemein 
fruchtbar und klein parzelliert. Die Saaten stehen üppig; Sommerfrucht 
wird zum Teil erst jetzt gesät, Winterweizen bedeckt große Strecken. Man 
sät ihn in Furchen von etwa 50 cm Abstand; dazwischen werden im 
Juni Bohnen gesteckt. Es wird hier viel Baumwolle und Seide gewonnen, 
in der Ebene die gewöhnliche Seide vom Maulbeerbaum, in den Bergen 
vom Eichen-Seidenwurm. Auf deu Feldern von Tsi-nan-su an sind 
Brunnen, und da es seit vier Wochen nicht geregnet hat, so werden die 
Felder künstlich bewässert. Gegen abend sieht man allenthalben die Leute 
an der Wiude stehen und das Wasser heben, das aus 2—6 m Tiefe kommt. 
Das gibt den Feldern selbst bei der jetzigen Dürre ein frisches Aussehen. 
Überhaupt ist das frische Grün der Landschaft sehr wohltuend. Die Vege- 
tation schreitet mächtig vorwärts. Die Obstbäume stehen in Blüte, und 
einzelne Ortschaften gewähren ein herrliches Gemisch der rötlichen Baum- 
blüteu und der grünen Blätter. Dieses Tal ist überdies reicher an 
Bäumen als alle vorher gesehenen. Die Straße ist oft mit Reihen von 
15 in hohen Weiden eingefaßt. Dazu kommen nun noch die Maulbeer- 
baumpflanzuugen. Und doch: um wieviel schöner könnte auch diese Land- 
schaft sein,, wenn die Bekleidung der Berge nicht vertilgt worden wäre 
und die Unsitte des Ausrottens der Graswurzelu nicht herrschte. 
Eine auffallende Erscheinung in China überhaupt, besonders aber in 
der Nähe eines reichen Handelsplatzes, ist das Fehlen von Landsitzen reicher 
Leute. Innerhalb der Städte bauen sich reiche Leute ein nach ihren Be- 
griffen stattliches Haus, aber ein Bedürfnis nach den Freuden des Land- 
lebens scheinen sie nicht zu kennen. Marko Polo schwärmt noch von den 
schönen Landsitzen bei Hang-tschou, aber auch dort existiert etwas Derartiges
	        
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