Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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mußte Napoleon den Rückzug durch das feindliche Land antreten. Hierauf 
hatten die Russen gewartet. Mit den Schwärmen ihrer Kosacken verfolgten 
sie den fliehenden Feind, ließen ihm keine Ruhe weder bei Tag noch bei 
Nacht, und wer sich nur von dem Hauptheer entfernte, wurde niedergemacht. 
Da brach Tod und Verderben noch furchtbarer über das gewaltige Heer 
herein. Früher als gewöhnlich begann der in den öden Steppen Ru߬ 
lands so harte Winter. Die fliehenden Scharen hatten keinen Schutz gegen 
seine Strenge; ihre Kleider waren zerrissen, die Füße, halb entblößt, zit¬ 
terten auf dem kalten Schnee; die Dörfer und Städte waren verwüstet, 
nirgends ein Obdach gegen den furchtbar schneidenden Wind, kein Bisten 
Brot, den nagenden Hunger zu stillen. Da ergriff Verzweiflung ihre Her¬ 
zen. An jedem Morgen lagen Haufen Erfrorener um die ausgebrannten 
Wachtfeuer. Die ermatteten Krieger konnten sich kaum weiter schleppen; 
Tausende blieben zurück und wurden eine Beute der russischen Wölfe. Als 
das erschöpfte Heer über die Beresina zog — hinter ihm her waren die 
russischen Scharen —, da brachen die Brücken, und Tausende fanden in den 
Fluten ihr Grab. — Da verließ Napoleon heimlich das Heer, und in einem 
Schlitten fuhr er nach Frankreich. Die Hand des Herrn hatte ihn ge¬ 
troffen. Der hatte gesagt: „Bis hierher und nicht weiter; hier sollen sich 
legen deine stolzen Wellen!" 
31. Preußens Erhebung. 
Ein Häuflein nur von der „großen Armee" zog durch Preußen. Sein 
Anblick erregte Entsetzen und Mitleiden. Halbnackt, zerlumpt, mit erfrore¬ 
nen Gliedmaßen, ausgehungert, krank und elend erschienen die wieder, 
welche erst vor wenig Monaten in stolzem Uebermuth und des Sieges gewiß 
ausgerückt waren. Da ergriff das preußische Volk die Ueberzeugung, daß 
nun die Stunde der Erlösung aus schwerer Knechtschaft geschlagen habe. 
„Das ist Gottes Finger!" ging es von Munde zu Munde. Es gab nur 
ein Gefühl im Vaterlande: glühenden Haß gegen die Franzosen. Es 
war das erklärlich. Sie halten Preußen zerstückelt, ausgesogen, den König 
und seine edle Gemahlin — die ruhte nun schon im Grabe — verhöhnt. 
Der König war kaum noch Herr in seinem Lande. Mit frechem Uebermuth 
hatten sie das Volk zertreten. Jetzt oder nie war der Augenblick erschie¬ 
nen, wo man die Ketten sprengen konnte. Man wartete sehnsüchtig, daß 
der König das Zeichen zum Losschlagen geben sollte. Und der erließ end¬ 
lich am 3. Februar einen Aufruf, sich freiwillig zum Schutze des Vater¬ 
landes zu bewaffnen. Es war nicht gesagt, wem das gelte, es war auch 
nicht nöthig, jeder wußte es. Der König hatte nach den vielen bitteren Er¬ 
fahrungen seines Lebens kaum zu hoffen gewagt, daß der Aufruf eine tiefe 
Wirkung hervorbringen werde. Aber wie sollten seine kühnsten Hoff¬ 
nungen weit übertroffen werden! Die Begeisterung ergriff alle Stände. 
Jünglinge und Männer verließen Beruf und Familie, um das Vaterland 
zu befreien. In Berlin allein ließen sich neuntausend junge Leute in die 
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