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Unsere Stadt und unser Land.
Kinder in den Berg hinein, und als alle darin waren bis auf eins,
das dem Zuge nicht rasch genug hatte folgen können, schloß sich der
Berg wieder.
Als nun das eine Kind in die Stadt zurückkam und erzählte, wohin
der Rattenfänger feine Gespielen geführt habe, da entstand unter den
Einwohnern von Lameln ein großes Jammern und Wehklagen, und
alle machten dem Rate Vorwürfe, daß er dem unheimlichen Gesellen
den versprochenen Lohn nicht verabreicht hatte. Aber die Reue kam z"
spät, denn die Kinder blieben verschwunden und sind bis auf den heutigen
Tag nicht wieder zurückgekehrt. Es wird gemeldet, daß ferne im schönen
Siebenbürger Lande sich ein Berg aufgetan hat und daß dort die Kinder
ihre neue Leimat gefunden haben. Die Stelle zeigt man noch heute dort.
Nach Franz Kamberg und Friedrich Müller.
109. Die Weiber von Weinsberg.
Konrad, der erste Kaiser aus dem Lause der Lohenstausen, sah
sich genötigt, die Stadt Weinsberg in Schwaben zu belagern. Der
Lerzog Wels wollte den hart bedrängten Weinsbergern zu Lilfe kommen,
wurde aber von Konrad besiegt. Dessenungeachtet wollte sich die Stadt
durchaus nicht ergeben. Da schickte der Kaiser einen Lerold hinein
und ließ den Weinsbergern ankündigen, wenn die Stadt sich nicht er¬
gäbe, so sollten alle Männer gehängt werden, sowie er hineinkäme.
Jetzt war guter Rat teuer, denn halten konnte sich die Stadt unmöglich;
der Vorrat an Lebensmitteln war schon zusammengeschmolzen, und aus
Entsatz war nicht zu rechnen. Da hielten die Frauen der Stadt einen
Rat und schickten bei Nacht etliche aus ihrer Mitte in das feindliche
Lager, um zu versuchen, ob sie den Sinn des harten kaiserlichen Lerrn
nicht erweichen könnten. Konrad aber wollte sich zu nichts verstehen und
gewährte nach langem Bitten nur, daß am nächsten Morgen die Frauen
freien Abzug haben sollten und an Schätzen mitnehmen dürften, was
ihnen das liebste wäre. Als der Morgen kam, öffnete sich das Tor,
und siehe da, es erschienen die vornehmsten Frauen der Stadt mit ihren
Männern auf dem Rücken, und hinterher folgte die ganze Schar von
Frauen und Jungfrauen, jede mit einem Mann oder einen: Jüngling
auf dem Rücken. Da ritten die Fürsten an Konrad heran und meinten,
das könne die kaiserliche Majestät doch unmöglich zugeben. Die Frauen
aber beriefen sich darauf, der Kaiser habe gesagt, sie dürsten mit sich
nehmen, was ihnen das liebste wäre, und nach des Kaisers Wort hätten
sie getan. „And ich werde mein Wort halten," sprach der Kaiser;