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erscheint, hier ein kühler Wind auf den schon erhellten Bächen schwärmt, in mutwil¬
ligem Spiel die kleinen Wellen kräuselt und da, im frischen Laube scherzend, den
Tau herabschüttelt. Ein sich immer mehr aufheiterndes Purpurrot durchströmt die
Wolken, und ein vorlaufender Schimmer der herannahenden Königin des Tages spielt
auf den Häuptern der Felsen und Hügel, welche die letzten Tropfen des Taues em¬
pfangen, und weckt die ganze Natur, auf ihre prächtige Ankunft aufmerksam zu sein.
Der ganze Ost entflammt sich; der Himmel glänzt von einem zitternden Lichte; die
Stirnen der Berge glühen; über dem gewölbten Walde zerfließt eine liebliche Röte,
und weit umher schwimmen schon die Gefilde in einer goldenen Heiterkeit. Endlich
erhebt sich dort die Sonne über den Horizont herauf, ein wallendes Meer von Feuer.
Ihre Strahlen umleuchten alles; die weite Schöpfung fühlt ihre Gegenwart. Der
Glanz des Lichtes blitzt auf den betauten Fluren; die Wiesen schimmern im reicheren
Schmelz; die Blumen entfalten sich und spiegeln ihre benetzten Blätter vor der er¬
wachten Sonne. Der West wälzt sich auf erfrischten Gewächsen; die Luft ist kühl.
Die Lerche wirbelt ihr Morgenlied in die beglänzten Wolken. Jede Schönheit der
Natur enthüllt sich wieder, und ein Trieb des Vergnügens bemeistert sich aller Sinne.
Ein zarter Dampf, der das Thal noch mit einem leichten Flor beschattete, verfliegt
allmählich in der heitern Luft; die entfernten Gebirge nähern sich aus ihrem Duft
dem Auge wieder, und alle unsere Blicke streifen in der erleuchteten Landschaft.
Schon lange hat der Landmann, von der Stimme des Hahns geweckt, sein Lager ver¬
lassen; munter bereitet er sein Feldgerät vor der Hütte, die von hohen Eichen be¬
schattet und von nahen Wiesen umdustet ist. Am Eingänge des Forstes steht der Hirsch,
sieht den frühen Reisenden vorüberziehen, gafft ihn mit furchtsamer Neugierde an und
rauscht in die sicheren Gebüsche zurück. Die Tiere jauchzen dem jungen Tage ent¬
gegen und suchen ihre Nahrung; der Stier führt mit gemessenen Schritten die Herde
wieder zur Weide hin, und das Gebrüll der Tiere und der Klang der Schellen durch¬
tönt den Weg; neben ihm springen die Schafe aus ihren Hürden hervor, und die
Hügel umher antworten auf das Geblök und das Horn des Hirten. Indessen stim¬
men die Wälder in das allgemeine Loblied der Natur mit ein; hundert vermischte
Stimmen frohlocken zum Himmel empor; der Landmann wetzt die Sense und mähet
und singt. Alles ist Leben und Freude!
58. Die Dürre in der Heide.
A. Stifter.
Pfingsten kam näher und näher. Der Himmel war wochenlang glänzend
geblieben, und wohl hundert Augen schauten nun ängstlich zu ihm auf. Eines
Nachmittags stand über der verwelkenden Heide eine jener vrüchtigen Erscheinungen,
die wohl öfters in morgenländischen Wüsten gesehen werden, nämlich das Wasser¬
ziehen der Sonne. Ans der ungeheuren Himmelsglvcke, die über der Heide lag,
wimmelnd von glänzenden Wolken, schossen an verschiedenen Stellen majestätische
Ströme des Lichts, und auseinanderfahrende Straßen am Himmelszelte bildend,
schnitten sie von der gedehnten Heide blendend goldene Bilder aus, während
das ferne Moor in einem schwachen, milchichten Höhenrauche verschwamm. So
war es dieser Tage oft gewesen, und der heutige schloß wie seine Vorgänger;
nämlich abends war der Himmel gefegt und zeigte eine blanke, hochgelbschimmernde
Kuppel.
Man klagte im Dorfe, daß die Halme des Kornes so dünn standen, so zart,
die wolligen Ähren pfeilrecht emporstreckend wie ohnmächtige Lanzen. Am andern
Tage war es schön, und immer schönere Tage kamen und schönere. Alles und jedes
Gefühl verstummte endlich vor der furchtbaren Angst, die täglich in die Herzen
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