188 Die deutschen Kolonien,
Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft.
(Zur Lektüre.)
Wie aus unerschöpflichen Quellen haben sich reiche Ströme deutscher Volks-
kraft und deutscher Geistesbildung über die Welt ergossen. In den Zeiten der
Völkerwanderung hat der dem deutschen Blute innewohnende Wandertrieb die
Germanenstämme nach dem Süden und Westen geführt, nach Frankreich, Spanien
und Afrika, nach Italien, dann bis tief nach Ungarn hinein und wieder nord-
wcirts nach England. Und schon bald nach der Einigung der deutscheu Stämme
unter den ersten kraftvollen Sachsenkaisern, dann unter den Hohenstaufen und
später in der Zeit des Deutschherrnordens erwiesen die Deutschen ihren Beruf
als Kolonisatoren der Nord- und Ostmarken in heißen Kämpfen gegen Wenden
und Sorben, Obotriten und Preußen. Mit der Gewinnung der Ostsee ergaben
sich nunmehr die Voraussetzungen für einen internationalen Handel, der von
London bis Nowgorod, bis Stockholm und Bergen reichte. Es begann die
Blüteperiode der deutschen Hansa. Mit den Kreuzzügeu trateu dann
die italienischen Handelsstädte mehr in den Vordergrund, und die Wohnplätze
im Süden Deutschlands begannen auszublühen: Wien, Augsburg, Ulm und
N ü r n b e r g.
Die Entdeckung neuer Handelswege am Ausgange des Mittelalters fand
die Deutschen nicht untätig, wenngleich die romanischen Nationen, die Portugiesen
und Spanier, daran den Hauptauteil hatten. Die Fugger und Welser ins-
besondere waren bestrebt, die neuen Verkehrsverhältnisse sich dienstbar zu machen.
Sie haben Flotten aus spanischen Häfen ausgehen lassen und sich am spanischen
Gewürzhandel beteiligt, ja selbst zu Eroberungen und Kolonisationen sind sie
fortgeschritten. Venezuela wurde besetzt und sollte richtiger Welserl and heißen.
Doch ohne Unterstützung durch das Reich, dem eine Flotte fehlte, wurden die deutschen
Kolonisatoren immer mehr aus ihren Handelsbeziehungen verdrängt, und aus diesem
Umstände erklärt sich wohl auch die sonst unbegreifliche Untätigkeit der Hansa in
jenem großen Umschwung der internationalen Verkehrsverhältnisse. Die grauen-
vollen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges vollendeten noch den Verfall des deutschen
Handels zu Land und zur See. Holland und England rissen das deutsche Erbe
an sich. Wohl versuchte der Große Kurfürst, der in der Schule der Holländer
herangewachsen war und die Bedeutung des Meeres als Quelle der Völkergröße
kennen gelernt hatte, die Schöpsnng einer Handelsflotte und die Gründung einer
Kolonie in Westafrika. Im Jahre 1683 wurde trotz des Einspruchs eifersüchtiger
Mächte von einem Teile der Küste Besitz ergriffen, das Fort Groß-Friedrichsburg
errichtet, und verheißungsvolle Handelsbeziehungen wurden eröffnet. Aber schon
sein Nachsolger, der erste preußische König Friedrich I., hatte für diese Be-
strebungen wenig Interesse, und Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrichs
des Großen, betrachtete vollends das ganze Kolonisationswesen als „Chimäre"
und verkaufte 1719 seinen Besitz der Holländisch-Westindischen Kompanie für
6000 Dukaten.
Über 200 Jahre litt das deutsche Volk unter seinen unglückseligen politischen
Verhältnissen, es war meerfremd geworden, und dem Rückgange des materiellen
Lebens ist der des geistigen gefolgt.