Die deutschen Kolonien. 189
Langsam bereitete sich der Eintritt Deutschlands in die Reihe
der Welthandelsmächte vor. Der Sinn für fremdes Volkstum und fremde
Eigenart war in Deutschland immer rege, leider oft zu seinem Schaden. Durch
Männer wie Kant, Alexander von Humboldt und Karl Ritter ward Deutschland
auch das Geburtsland der wissenschaftlichen Erdkunde. Außerdem war die Kennt-
nis der fremden Sprache bei uns allmählich zu folcher Verbreitung gelangt wie
kaum anderswo. Die unmittelbare Veranlassung zur Entwicklung der überseeischen
Interessen Deutschlands aber wurde die deutsche Auswanderung, Haupt-
sächlich nach Nordamerika. Seit dem Ansänge des 19. Jahrhunderts haben mehr
als 5 Millionen Deutsche sich neue Wohnsitze in der Fremde, hauptsächlich in
Nordamerika, gesucht, wo jetzt 8—9 Millionen Deutsche leben. Die wirtschaft¬
liche Einbuße, die unser Vaterland dadurch erlitten, ist groß. Anderseits aber
sind es in erster Linie die Verkehrsbeziehungen zu Amerika gewesen, die den Handel
unserer Hansestädte wieder emporbrachten. Auf der östlichen Halbkugel wurde
erst China, dann Indien erschlossen, und Japan öffnete zu Beginn der 60er Jahre
seine Häfen dem deutschen Verkehr. Heute vollends umspannen die von Deutsch-
land auslaufenden Verkehrsfäden, die jetzt auch nach Australien und der Südsee
hinüberziehen, den ganzen Erdball.
Seit Beginn der 80 er Jahre ist das Deutsche Reich in die Reihe der
Kolonialmächte eingetreten, und es beherrscht heute ein Gebiet von dem Fünf-
fachen seiner eigenen Größe (23/5 Mill. qkm) mit 12^ Mill. Einw.); es steht
somit unter den Kolonialmächten hinsichtlich des Flächeninhalts seiner Besitzungen
schon an 3. Stelle. Das in den Schutzgebieten angelegte Kapital wird auf
240 Millionen M. geschätzt und deren Ein- und Ausfuhrhandel betrug 1903
bereits 67 Millionen M.
Vom Gesamtwerte des deutschen Außenhandels, der 1906
die gewaltige Summe von nahe 14 Milliarden M. erreicht hat, entfielen 2/3
(über 9 Milliarden M.) auf den Seehandel; außerdem wird die Summe
der deutschen Kapitalsanlagen in überseeischen Ländern auf 9 Milliarden M. ge-
schätzt und befinden sich 16 Milliarden M. ausländischer Wertpapiere in
deutschen Händen.
In Amerika haben die Deutschen, besonders in Mittel- und Südamerika,
bedeutende Handelsniederlassungen mit gewaltigen, oft den Wert vieler
Millionen besitzenden Warenlagern. In Mittelamerika, Westindien, Mexiko,
Venezuela u. a. haben sich deutsche Plantagenbesitzungen zu erheblicher
Wichtigkeit emporgeschwungen. Daß der deutsche Handel in Amerika auch
mehr und mehr mit deutschem Kapital arbeitet, beweisen die in jüngster Zeit
errichteten überseeischen Banken. Ebenso haben sich die Deutschen in den ameri-
konischen Ländern in zunehmendem Maße dem Bau von Eisenbahnen zugewendet.
So werden die deutschen Kapitalanlagen in nordamerikanischen Bahnen auf rund
400 Millionen M. angegeben. Viele Fabriken sind mit deutschem Kapital und
vielfach sogar mit deutschem Material eingerichtet. An der Liebig-Kompagnie, an
den chilenischen Salpeterminen sowie an den chilenischen und peruanischen Metall-
gruben hat Deutschland nicht unerheblichen Anteil.