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in einen solchen Ort kommt, dann mitten unter seinen Unterthanen und 
wie sie stehend dem Gottesdienste beiwohnt. 
Die griechische Messe. 
Eines der merkwürdigsten Schauspiele, welche die russische Kirche 
bietet, ist der sonntägige und auch sonst an allen Feiertagen dem besondern 
Gottesdienste desTages vorausgehende a l l g e m e i n e G o t t e s d i e n st, die 
gewöhnliche Messe, mit der Ertheilung des heiligen Abendmahls verbunden. 
Kein Fremder, der sich vom Geiste dieses Volkes anwehen lassen will, 
darf es versäumen, die Messe öfter zu besuchen. Da sie das Hauptstück 
des ganzen Gottesdienstes von über 50 Millionen Menschen ausmacht, 
und da sie so äußerst viel Charakteristisches für diese Menschen enthält, so 
wollen wir es versuchen, von ihr eine getreue Darstellung zu geben. 
Vorschriftsmäßig zerfällt die Liturgie der russischen Messe in drei 
Theile, nämlich in die Vorbereitung durch Gebet und Bibellesung 
nebst der Zubereitung des Brotes und Weines, in die Verwandlung 
des Brotes und Weines, und in die Vertheilung desselben nebst dem 
Schlußgebete. Aus diesem Einfachen haben aber die Priester ein sehr Zu¬ 
sammengesetztes gemacht, so daß eine vollständige Messe, wie sie indeß nur 
in den Klöstern von den müssigen Mönchen abgehalten wird, drei bis vier 
Stunden dauert. In den gewöhnlichen Kirchen, wo manches abgekürzt 
wird, dauert sie aber auch noch lange genug. 
Wenn die Gemeinde vor der Gallerie des Allerheiligsten versammelt 
steht und die Stunde des Anfangs gekommen ist, so tritt zunächst ein 
Diakon aus einer der beiden Seitenthüren des Ikonostas hervor, stellt sich 
mitten vor die verschlossenen königlichen Pforten desselben, das Gesicht gegen 
die Zuschauer gewendet, und mit der linken Hand eilt langes, breites, gold¬ 
gesticktes Band, das ihm über die Schultern herabhängt, an dem einen 
Zipfel ergreifend und hoch emporhaltend, ruft er aus, „daß im Namen des 
Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes der Gottesdienst beginne." 
Man nimmt immer einen in Figur und Stimme vollendeten Herold zu 
dieser Ausrufung, wo möglich einen Riesen mit einem erschütternden Basse, 
der die Ankündigung überlaut in die Kirche hineinruft. Gleich nach der 
Eröffnung fährt derselbe Diakon mit seiner Ankündigung fort, die gleiche 
malerische Stellung beibehaltend, im Namen welcher Personen man jetzt 
das Brot zur Begehung der heiligen Handlung schneide. Er spricht mit 
mächtiger Stimme: „Im Namen unsers Herrn und allergnädigsten Kaisers 
AlexanderNikolajewitsch! Im Namen unserer KaiserinMariaAlexandrowna! 
Im Namen des ganzen kaiserlichen Hauses, des Staats, des Militairs, 
des Civils! Im Namen aller rechtgläubigen Russen und unserer ganzen 
christlichen Brüderschaft!" Während dessen gießt der Priester, aber un¬ 
sichtbar hinter der Bilderwand — auf einem kleinen, zur Seite des Altars 
stehenden Tische den Wein in den Becher, zerschneidet das Brot in kleine 
Stückchen und schüttet es auf einen silbernen Teller. 
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