180 
Mythologie, mittel - alterlicher Romantik und moderner Kunst. Ueberall 
— das kommt hier zum Bewußtsein — ragt in die Stadt das Land, in 
die Gegenwart die Vergangenheit, in das weltliche das kirchliche, in das 
Cultur- das Naturleben hinein, und das macht eben Prag so merkwürdig, 
so eigenthümlich. Es läßt sich kein vollerer Gegensatz denken, als zwischen 
einer Stadt wie Berlin mit einer Stadt wie Prag. — Berlin in einer 
durchaus flachen, einförmigen Sandebene an der unscheinbaren Spree; — 
Prag in einem wechselreichen Hügellande, zum Theil selbst auf Berges¬ 
höhen erbaut, an den pittoresken Ufern der Moldau; um Berlin die 
Natur des norddeutschen Tieflandes mit seinem Repräsentanten, der Kie¬ 
fer — um Prag schon süddeutsche Natur, Wein- und Obstgärten; die 
Straßen von Berlin alle breit, regelmäßig, geradlinig — in Prag kaum 
zwei breite, gerade Straßen, alle andern krumm und eckig; in Berlin 
fast alle Häuser modern, schön, freundlich, aber einförmig und prosaisch, 
ohne geschichtliche Erinnerungen, — in Prag viele rußige alterthümliche 
Häuser, unregelmäßig, oft bizarr, mit gewölbten Vorbauten und Lauben- 
gängen, die Paläste aus ältester Zeit, jeder mit seiner Geschichte ein Re¬ 
präsentant grauer Vergangenheit; kein Haus dem andern gleich, ein bunter 
Wechsel; — in Berlin Alles fein, abgeschliffen, äußerst elegant, vornehm 
ein, so zu sagen, spirituelles Wesen im Ganzen; — in Prag viel Schmutz, 
ein ganzes Judenviertel, ein mehr materieller, plebejischer Anstrich; man 
sucht vergebens nach einem Weftminster oder einer Wilhelmsstraße; überall 
böhmische Bauern, Juden und Pöbel, an allen Ecken und Enden Fleisch- 
und Semmelbuden, Hökerweiber und dampfende „Würstel", nirgends etwas 
Exclusives. In Berlin sind Kirchen und Glocken eine Seltenheit, in Prag 
ist Beides im Ueberfluß; Berlin die Residenz der Friedriche und der 
Philosophen, Prag die Residenz der Erzbischöfe. 
Das anziehendste und wichtigste Schauspiel bietet Böhmen dar in 
der Mischung zweier grundverschiedener Nationen, die seine Bevölkerung 
bilden. Von den mehr als fünf Millionen sind nämlich 2,900,000 Czechen 
(Tschechen), der übrige Theil Deutsche, von dem das Volk Israel noch in 
Abzug zu bringen ist, das sich überall an das Slavenvolk, wie die Klette 
an die Wolle, anklebt. — Wie zwei feindliche Elemente sind jene zwei 
Völkersubstanzen oft zischend und brausend gegen einander gefahren, haben 
sich zuweilen mechanisch verbunden, aber nie chemisch: eine drohte die 
andere zu verschlingen, und doch war nur die eine oben, wenn die andere 
zu Boden fuhr; das czechische Volkselement schien endlich aufgelöst, und 
siehe da! es lebte wieder auf mit neuer frischer Kraft. Daß die Deut¬ 
schen in Böhmen, obwohl die geringere Zahl, nicht den Czechen erlegen 
sind, kann nicht Wunder nehmen, da sie die große west-europäisch-ger¬ 
manische Cultur zur schützenden Grundlage hatten, wenn sie auch nicht 
die regierenden Herren gewesen wären. Daß aber die czechischen Slaven, 
von ihrem Volksstamme abgerissen, ohne nationale und geistige Ein¬ 
heit mit einem größern Ganzen doch ihr eigenthümliches Wesen bewahrt
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.