Westeuropa. 65
einem Feinde gelänge, diese Zufuhr auf kurze Zeit abzuschneiden, so wäre das
Volk dem Hunger preisgegeben!) Ferner bedarf die blühende Industrie gewaltiger
Mengen von Rohstoffen, namentlich von Erzen und Faserstoffen. Alles dies
bezahlt England mit den Erzeugnissen seiner großartig entwickelten und überaus
mannigfaltigen Industrie. Der weit ausgedehnte Handel hat dem Lande unge¬
heuren Reichtum gebracht, so daß England zugleich die erste Geldmacht der Erde
ist. Die Londoner Börse bildet den Mittelpunkt des Kapitalaustausches der ganzen
Welt. Seinen Überschuß an Kapital verwendet England wiederum zur Stärkung
seiner weltwirtschaftlichen Machtstellung; es beteiligt sich an großen Unternehmungen
im Auslande (es besitzt z. B. die meisten Eisenbahnen Argentiniens).
Beziehungen Englands zum Deutschen Reiche.
England ist von alter Zeit her mit seinem germanischen Gegengestade, beson-
ders mit Deutschland, in regem Verkehr. Als die Hanse die Herrschaft in den nörd-
lichen Meeren innehatte, stand es zu dieser sogar im Verhältnis der Abhängigkeit.
In unserer Zeit herrscht zwischen den beiden stamm- und kulturverwandten Völ-
kern ein sehr lebhafter geistiger und wirtschaftlicher Austausch. Die
hervorragenden Charaktereigenschaften des englischen Volkes: Liebe
zum Familienleben, Religiosität, ernste Lebensauffassung, praktischer Sinn, Ar-
beitssreude und Unternehmungslust — nötigen uns die größte Hochachtung ab.
In seinen politischen Verhältnissen (z. B. Parlament) kann uns das Land als
Muster dienen. Aus den Gebieten der Industrie war es unser Lehrmeister
(James Watt, der Erfinder der Dampfmaschine, George Stephenson, der der Loko-
motiveisenbahn). Wenn trotzdem in neuester Zeit die gegenseitigen Beziehungen
oft den Anschein der Feindseligkeit hatten, so liegt dies daran, daß Deutschland
durch seine gleiche Tüchtigkeit Englands wirtschaftlichen Vorsprung mit beispiel-
loser Kraft und Schnelligkeit einzuholen sucht. Wo auch Deutschland neue Absatz-
gebiete in der Welt sucht, überall trifft es auf den älteren und sieggewohnten Wett-
bewerber England. Das verursacht naturgemäß Reibungen und wirtschaftliche Kämpfe.
Daß letztere sogar zu einem Kriege geführt haben, bedeutet für beide Länder eine
gleich schwere Heimsuchung; denn sie können einander als Kunden und Abnehmer
gar nicht entbehren. Deutschland kaufte England im Jahre 1913 für 876 Mill. M.
Waren ab, vor allem Steinkohlen, Baumwoll- und Wollgarn, Kleiderstoffe,
Heringe und andere Seefische. Dafür lieferte Deutschland für fast iy2 Milliarden
M. (1438 Mill.) seiner Jndustrieerzeugnisse, in erster Linie Rübenzucker (191 Mill.),
Eisenwaren, Seidengewebe, Wollstoffe, Teerfarben nud andere Chemikalien,
Stickereien, Posamenten u. v. a. England ist unter allen Ländern der Erde
• unser bester Kunde, und Deutschland ist der beste Abnehmer eng-
lischer Waren.
Englands Kolonialbesitz.
Neben der glücklichen Seelage wird Englands Welthandelsmacht hauptsächlich
gestützt durch einen ausgedehnten Kolonialbesitz in allen übrigen Weltteilen und
durch zahlreiche Schiffahrtsstationen, die seinen Handelsweg „rund um die
Welt" und mit diesem Englands Herrschaft zur See sichern. Englands Kolonial-