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Proben aus neueren deutschen Epen.
Sollte sie flehn? Sie schaute sich um, da war kein Erbarmer!
Schaute gen Himmel empor, auch er verstummte der Mutter!
Jetzo betet ihr blutendes Herz: „O, der ihn durch Engel
Mir verkündigen ließ, mir ihn in Bethlehems Tal gab,
s Daß ich mit Mutterfreuden mich freute, mit denen der Mütter
kleine sich jemals freute, mit Freuden, die selber die Engel
In dem Liede von seiner Geburt nicht alle besangen,
Du, der Samuels Mutter erhörte, da sie am Altare
Stand und weint' und betet', erhör, Erbarmer, den Jammer
io Meiner Seele, vernimm die Angst, die mehr mich erschüttert
Als der Gebärerin Angst! Das mütterlichste der Herzen
Gabst du mir und den besten der Söhne, den besten vor allen
Erdgebornen. Laß ihn nicht sterben, ist anders mein Flehen
Deinem göttlichen Willen gemäß, o du, der die Himmel
Schuf und der Träne gebot, zu dir um Erbarmung zu flehen!"
Hier verstummt' ihr Herz. Der Strom der kommenden Menge
Trieb sie seitwärts und nahm ihr des Sohnes Anblick. Sie entriß sich
Jetzt dem Gedränge, sie stand, sie ging, sie suchte, sie fand nicht,
Nicht die Jünger. Zuletzt verhüllte sie sich und weinte
20 Sprachlos. Als sie darauf ihr Aug' aufhebt, da erblickt sie
Sich an dem Seitenpalaste des Römers. „Vielleicht, daß hier Menschen
Wohnen", denkt sie, „vielleicht, daß selbst in der Schwelger Palästen
Eine Mutter gebar, der es Mutterliebe zu fühlen
Nicht zu klein ist. O, wenn es wäre, was viele der Mütter
25 Von dir. Portia, sagen, daß du ein menschliches Herz hast;
O, ihr Engel, die ihr bei der Grippe seiner Geburt sangt,
Wenn das wäre!" Sie denkt's. Schon eilt sie die Marmorgeländer
Unverhüllter hinauf und geht in den schweigenden Sälen.
Aber nicht lang, so kommt aus einem fernen Gewölbe
so In des Palastes Seite, die sich zu dem Richtstuhl hinzog,
Eine Römerin her und sieht Maria. Die junge,
Bleiche Römerin blieb, so wie gelöst ihr das Haar floß
Und das leichte Gewand die bebenden Glieder herunter,
Voll Vewundrung stehn. Denn die Mutter des Unerschaffnen
35 Zeigte, wiewohl der Schmerz sie verhüllt, in ihren Geberden
Eine Hoheit, von Engeln, weil die auch dann sie verstanden,
Selbst bewundert; verhüllt vom Schmerze, stieg sie am tiefsten
Zu den Menschen hinab, von ihnen bewundert zu werden;
jDenn die kannten nicht, was an der Heitern die Himmlischen sahen.j
io Endlich redet die Römerin: „Sag, o sage, wer bist du?
Wer du auch seist, noch nie hab' ich diese Hoheit gesehen,
Diesen göttlichen Schmerz!" Da unterbrach sie Maria:
„Wenn du wirklich das Mitleid, das du in deinem Gesicht hast,
Auch in dem Herzen empfindest, so komm, o Römerin, führe
45 Mich zu Portia!" Mehr noch erstaunt, antwortet mit leiser,
Sanfter Stimme die Römerin: „Ich bin Portia." — „Du bist