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von großer Bedeutung, weil die klare Erkenntnis der Naturkräfte,
als deren Ausdruck sich die Landschaft darstellt, Vorbedingung aller geographischen
Schilderung ist. Dieses Erkennen macht uns aber die Natur oft nicht leicht, und
nicht jeder hat entweder den geschulten Blick, der aus Unscheinbarem den Schlüssel
zur richtigen Beurteilung eines Naturbildes herausfindet, oder auch die intuitive
Gabe des Genies, die wir an dem Landschaftsschilderer Goethe stets bewundern.
Und so schlummert in jeder Landschaft ein Leitmotiv, ein wesentliches, das durch
den Schilderer erschlossen werden muß, damit es seiner Schilderung ebenso zugrunde
liege, sie durchziehe, beherrsche, wie die Naturkräfte die geschaute Landschaft durch-
walten." Das Elbsandsteingebirge reizt von selbst zur Darstellung als Erosions-
gebirge, in welchem das fließende Wasser in den verschiedensten Formen seine
Tätigkeit seit Jahrtausenden ausübt und der romantischen Landschaft den Stempel
aufgedrückt hat. Das Moor verlangt die Darstellung seiner Zwitternatur zwischen
Land und Wasser, die in dem Kontrast der blinkenden Wasserflächen gegen den
torfschwarzen Boden und den grauen, dunstigen, von wasserschweren Wolkenzügen
bedeckten Himmel zum Ausdruck kommt. — Die lebensvolle Wirkung einer Land-
schaftsfchilderung ruht aber nur zum Teil auf dem Grunde richtigen Erkennens;
ebenso wichtig ist, daß sie sich unseres Gemütes bemächtigt. Ein
guter Teil des Eindruckes einer schönen Landschaft auf unser Gemüt muß darauf
zurückgeführt werden, was für Bewegungen ihre Formen dem Auge vorschreiben.
Daher ist es auch bei einer Landschaftsschilderung nicht gleichgültig, ob unser
geistiger Blick „an der schön geschwungenen Rundung eines Golfes ins Land hinein
und dann an dem sanft geböfchten Hange eines Vulkans langsam himmelwärts
schweifen kann, oder in enger Felsenschlucht sehnsüchtig längs steiler Wände empor-
klettern muß zum Lichte, seinem Elemente". Ferner bestimmen die Farbeneindrücke
einer Landschaft ihre Wirkung auf unser Gemüt. Diese können freilich durch die
Sprache nicht sinnlich wiedergegeben werden. Aber wie schon die Substantiva
unwillkürlich in dem Augenblicke, in welchem wir sie hören, Formvorstellung und
Farbenbild der ihnen entsprechenden Dinge in der Landschaft reproduzieren, so wird
durch hinzugefügte form- und farbebezeichnende Adjektiva der ästhetische Genuß an
dem Phantasiegebilde in uns gesteigert, die dadurch hervorgerufene Stimmung ver¬
tieft. Endlich beeinflußt eine Landschaft durch das in ihr erkennbare „Leben"
unser Gemüt. Es macht sich Auge und Ohr bemerkbar und zwingt das Interesse
am stärksten in seinen Bann. So „wirft" das Licht seine Schatten, verkürzt sie
im Aufsteigen, verlängert sie im Sinken. „Deutlicher bewegt sich die Luft, sie
bewegt Pflanzen und Boden, die Wolken im Himmelsblau. Das Wasser bewegt
sich in seinen vielgestaltigen Formen. Tier- und Menschenwelt sind als Lebendiges
am beweglichsten." Und wie verschieden wirken auf unser Ohr das Brausen des
Meeres, das Flüstern des Waldes, das Dröhnen der Maschinen, der Gesang der
Vögel! Besonders an diesem hörbaren Element in der Landschaft darf eine
lebensvolle Schilderung nicht stillschweigend vorübergehen. Das Kind muß ihre
Töne mit seinem geistigen Ohre hören, muß das durch sie hervorgerufene Gefühl
in sich spüren, muß endlich den Ursachen nachforschen. Die bedeutendsten Schilderer
haben den Schalleindrücken sorgfältige Wiedergabe zuteil werden lassen, und wie
wuchtig Bürgers Balladen durch ihre Lautnachahmung wirken, ist bekannt. — Ein
Hauptmittel von größter anschaulicher Wirkung steht der Schilderung in dem von
Ritter mit Meisterschaft geübten Vergleich zur Verfügung. Er ermöglicht, Un¬