Full text: Europa (Teil 2, Abt. 2)

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Schiffe verkehren, sprechen alle Sprachen der Kulturvölker, ohne jemals darin 
unterrichtet zu sein. Hat der Russe das Deutsche erlernt, spricht er es gewandt 
und ohne Spur eines fremden Accents. Der Großrusse hat denn auch in seiner 
eigenen Sprache eine ungeahnte Zungenfertigkeit. Sein gutmütiges Wesen zeigt 
sich auch in der Sprache bei seiner Vorliebe für Verkleinerungssilben und Lieb- 
kosungswörter. Der Fuhrmann z. B. redet in den zärtlichsten Ausdrücken zu 
seinen Tieren. „Warte, mein Schwälbchen", ruft er, „du sollst bald ausruhen 
und blanken Hafer und grünen Klee fressen, so viel du willst." Oder: „Psui, 
Braunchen, schämst du dich nicht? Sieh' dort, Grigöris Schimmelchen ist kleiner 
als du und läuft doch schneller. Du wirst mich noch erzürnen, und ich werde 
dich schlagen. Schläge tun weh, höre nur!" Und damit schlügt er mit der 
Peitsche an die Schlittenwand, daß es klatscht. Wird das Rößlein durch diese 
Drohung zur Eile bewogen, so wird es in den zärtlichsten Ausdrücken gelobt. 
Die Sprachgewandtheit der Großrussen erklärt es. daß es unter ihnen 
tüchtige, durch Scharfsinn und Beredsamkeit ausgezeichnete Juristen gibt. Auch 
treffliche Ärzte sind in neuerer Zeit aus dem großrussischen Stamm hervor- 
gegangen*). Außerdem leisten die Großrussen Bedeutendes auf dem Gebiets 
der Natnrwiffenschaften und der Mathematik. 
Leider fehlt dem Großruffen die Lust zum Ackerbau, der natürlichsten 
und nützlichsten Beschäftigung, welche die Natur seines Landes mit sich bringt. 
Wenn sich nur irgendwie Gelegenheit bietet, sucht er dieser anstrengenden 
und seiner Meinung nach langweiligen Beschäftigung zu entgehen. So sieht 
man in den Straßen der Großstädte junge, kräftige Burschen, die im Felde für 
zwei arbeiten könnten, mit einem Hausiererkasten, in dem sie Band, Knöpse. 
Haken und Ösen und andere Kleinigkeiten feilbieten. Uberhaupt ist der Groß- 
russe ein geborner Kaufmann, und das Markten und Handeln ist geradezu 
eine Leidenschaft bei ihm. Vom Kleinkrämer bringt er es nicht felten zu großem 
Reichtum, Auch mancherlei Gewerbe und Handwerk ergreift der Groß- 
russe bei seiner Geschicklichkeit; nur müssen diese Beschäftigungen seine physischen 
Kräfte nicht allzusehr und allzulange in Beschlag nehmen und keine großen 
Ansprüche auf Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit machen. Bei seiner An- 
stelligkeit und vielseitigen Geschicklichkeit darf es nicht überraschen, daß der Groß- 
russe mit den geringfügigsten Werkzeugen Unglaubliches leistet. Mit dem ge- 
wöhnlichen Handbeil macht er in kurzer Zeit die feinsten Zimmer-, Wagner- 
und Schreinerarbeiten, und buchstäblich wahr ist das Sprichwort: „Der Russe 
reitet mit dem Beil in den Wald und fährt aus demselben (auf einem im 
Walde gefertigten Wagen) zurück. So leistet er denn auch in manchen H a us - 
i n du striezw eigen (Schnitzerei, Weberei, Spitzenklöppeln, Lederarbeiten) 
Vorzügliches. 
Hervorzuheben ist endlich seine aufrichtige, tiefe Religiosität, die 
allerdings mit einem guten Stück Aberglauben verbunden ist. 
Die deutschen Ansiedelungen an der Wolga liegen in der Nähe der 
Städte Ssamara, Ssaratow und Sarepta und stammen größtenteils 
aus der Zeit Katharinas II. Die Niederlassungen bei Ssamara und Ssaratow 
umfassen 102 Stammkolonien, die anfangs zwar mit den größten Schwierig- 
leiten zu kämpfen hatten, jetzt aber in' hoher Blüte stehen. Es gibt Orte 
<z. B. Katharinenstadt), die 8 — 10000 E. zählen. Neben Ackerbau und Vieh- 
zucht blühen auch Handel und Gewerbe. Obstbau ist selten; dagegen wird viel 
^.abak gebaut. — Sarepta ist eine Gründung der Herrnhuter. Bei der 
Durchwanderung der öden Steppe dachten die Begründer an die Wanderung 
des Propheten Elias durch die Wüste nach Zarpath (Sarepta) und nannten 
nach jener biblischen Stadt ihre neue Gründung. Durch Ausdauer, unermüd¬ 
lichen Fleiß und Geduld ist es ihnen gelungen. Sarepta zu einer blühenden 
und reichen Stadt zu machen. Getreide, Gartenfrüchte, Wein, Tabak und be- 
sonders Senf werden in großen Mengen angebaut. Auch der Gewerbefleiß ist 
*) Früher waren deutsche Ärzte vorherrschend, wie sich ja denn auch noch 
heute zahlreiche Apotheken in deutschen Händen befinden. 
Tromnau, Lehrbuch der Schnlgeograpliie II.** 11
	        
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