Abriß bet Poetik.
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sähe über die bindenden Regeln wie die offe¬
nen Freiheiten dabei sind noch nicht ganz
durchschaut worden; jedenfalls aber entspricht
die Form ganz dem tiefen Gehalte, der reinen
Unmittelbarkeit und dem hohen Schwünge,
der Hebräischen Lyrik. Sie in die gemessene
Form von Jamben und Trochäen, von Neu
men und Strophen zu übertragen, verlangt
einen durchdringend gestaltenden Dichtergeist; j
nicht selten machen solche Bearbeitungen einen
Eindruck, als wenn man einem Propheten
statt seines faltenreichen Gewandes ein knap¬
pes Modekleid anlegen wollte. — Der Rhyth-
mus bezieht sich:
2. auf das Verhältniß der Silben, und
zwar: a. mit Gebundenheit an die Quanti¬
tät, d- h. an ein bestimmtes Längenverhält:
niß der Silben; b. mit Gebundenheit an
den Accent, d. h. an die natürliche Beto¬
nung der Silben. Die erste Betonung nennt
man die quantitirende, die zweite die
accentuirende, und so spricht man auch
von quantitirenden und accentuirenden Spra¬
chen, je nachdem sie nach der einen oder der |
anderen Form ihre Verse bauen. Als d.itte
Form könnte man die bloße Silben zäh- !
lung, also die numerirende, hinzufügen;^
sie waltet im Französischen ob und ist die
seelenloseste Form; gewöhnlich übrigens ver¬
bindet sie sich niit dem accentuirenden Gesetze
und anderweitiger Wohllautsform.
1. Die quantitirende Form ist beson
ders bei den Griechen und Römern ausge¬
bildet worden. Jede Silbe ist entweder
kurz oder lang, ohne Rücksicht auf ihre Be¬
tonung im Worte; in pater ist das a kurz,
in mater ist es lang, in beiden Wörtern
aber hat a die Betonung. Nur in wenigen
Fällen gilt eine Silbe als schwankend, so daß
sie sowohl als kurz wie als lang gebraucht
werden kann. Die Kürze (mit ^ bezeichnet)
gilt als einfacher Zeittheil (mora), die Länge
(mit _ bezeichnet) als doppelter, so daß zwei
Kürzen gleich einer Länge sind. Außerdem
begründet die Stellung eines Vocals vor zwei
oder mehreren Consonanten eine Länge, die
Positionslänge. Die Lehre von der Quan¬
tität der Silben nennt man Prosodie.
Der quantikirende Versbau nun besteht I.
im Metrum (Maß), d. h. in einer be¬
stimmten Verbindung und Abwechselung von
kurzen und langen Silben; 2. im Rhyth¬
mus, d. h. in einer bestimmten, sich an
das Metrum anschließenden Betonung. Bei¬
des, Metrum und Rhythmus, ist unabhängig
vom Worttone, und der Rhythmus ist wieder
insofern unabhängig von der Quantität der
Silben, als auch kurze Silben im Verse be¬
tont, und lange Silben unbetont sein können.
Die Wörter
ümnia pàier coeléstis hominibus dédit
haben folgende metrische, theils natürliche,
theils Positions-Quantitäten:
— WWW — — — W W W — w w
und nach jambischem Rhythmus als Senar
folgende abweichende Betonung:
Omnia pater coeléstis höminibüs dédit.
2. Die accentuirende Form gehört be¬
sonders den neueren Sprachen an; sie besteht
darin, daß der rhythmische Verston mit der
natürlichen Wortbetonung zusammenfällt, z. B.
Vom güt'gen Gott ist alles, was der Mensch
besitzt.
§. 8. Der Deutsche Versbau.
Was nun insbesondere den Deutschen
Versbau-betrifft, so ist er von Anfang her
und nach der Natur der Deutschen Sprache
ein accentuirender. Im Altdeutschen ist der
Rhythmus noch schwankend: er hält sich aber
an den Wortton, in Verbindung mit Allite¬
ration. Im Mittelhochdeutschen ist geregelter
Versbau, in Verbindung mit Reim. Der
Vers hat seine bestimmte Anzahl von He¬
bungen, d. h. von betonten Silben; die
Senkungen, d. h. unbetonte Silben, können
dazwischen fehlen. Die Silben sind in Bezug
auf den Ton vierfach: 1. hochtonig, z. B.
die erste Silbe in gütig, 2. tiefto n ig, z. B.
die zweite Silbe in wahrhaft, 3. tonlos,
z. B. die zweite Silbe in gütig, 4. stumm,
z. B. die zweite Silbe in geben (gleich geb'n).
In den spätern Zeiten zerfiel der Versbau,
so daß er im l 6. Jahrhundert zu einer bloßen
Silbenzühlung wurde. Das Studium der
alten classischen Literatur führte im Anfange
des 17. Jahrhunderts zu einer Erneuerung
des Versbaues. Spee unterschied jambische
und trochäische Verse (s. S. 137). Beson¬
ders aber war es Opitz, der durch sein
Buch „Von der Deutschen Poeterei" einen
strengen Wechsel zwischen betonten und un¬
betonten Silben nach Maßgabe des antiken
Versbaues verbreitete. Jedoch blieb es noch
meistens beijambischen und trochäischenVersen,
mit wenigen Ausnahmen. Ein Jahrhundert
später führte Klopstock auch die künstlichen
Rhythmen der Alten in die Deutsche Sprache
ein, und gab denselben ein solches Ansehen,
daß man sogar wähnte, den Reim gänzlich
verbannen zu müssen. Klopstock hielt sich
zunächst nur an den Rhythmus; Voß suchte
darauf auch strenge metrische Grundsätze auf- «,
zustellen, die jedoch so künstlich und schwan- •
kend sind, daß sie, bei aller theoretischen Be¬
deutung und feinen Beobachtung, doch ohne
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