Full text: Quellenlesebuch für den Unterricht in der Länder- und Völkerkunde

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kriechen schon an dir herauf und werden gleich ihre scherenartigen Freß- 
Werkzeuge dir in den Hals bohren. Wehe! Wehe! 
Und doch ist alles das schön, nnr darf man sich nicht auf deu heißen 
Boden hinsetzen oder legen. Es ist nicht wie in den Fichtenwäldern und 
zierlichen Gehölzen Englands, man befindet sich in einer tropischen Welt 
und muß, um sie zu genießen, sich langsam weiterbewegen. 
(b. Die Bäume.) Man denke sich ganz Frankreich und die^Jberische 
Halbinsel dicht besetzt mit Bäumen von 6—60 m Höhe, glatten Stämmen, 
deren Blattkronen sich so nahe befinden, daß sie sich untereinander ver- 
wickeln nnd den Anblick des Himmels und der Sonne verhindern, und 
jeden Baum von wenigen Zentimetern bis über einen Meter dick. Als- 
dann laufen vou einem Baum zum andern Taue von 5—40 cm Durch¬ 
messer, welche die Form von Schlingen und Festons, eines lateinischen W 
und eines schlechtgeschriebenen lateinischen M haben oder sich in großen 
dichten Kreisen wie endlose Anakondas um die Stämme ringeln, bis sie 
die höchste Spitze erreicht haben. Laß sie üppig blühen und Blätter treiben 
und sich mit dem Blattwerk der Bäume vereinigen, um die Soune zu ver- 
bergen, laß von den höchsten Zweigen die Taue zu Hunderten bis beinahe 
auf den Erdboden herabfallen, mit ausgefransten Enden, welche die Luft- 
wurzelu der Schmarotzer repräsentieren, und schlanke Ranken herabhängen 
mit offenem Faserwerk an den Enden wie Troddeln. Arbeite alles ge- 
hörig durcheinander, so wirr wie möglich und von einem Zweig zum andern, 
ohne irgendwelche Rücksicht auf die Bestandteile, und pflanze an jeder 
gabelförmigen Stelle der Bäume und auf jeden horizontal stehenden Ast 
kohlähnliche Baumflechten vou der größten Art, Pflanzen mit breiten speer- 
förmigen Blättern, welche die Elefantenohr-Pflanze darstellen, sowie an 
anderen Stellen Orchideen und Gruppen vegetabilischer Wunderwerke, uud 
einen reichen Schmuck zarter Faru. Nunmehr bedecke Baum, Ast, Zweig 
uud Schlinggewächs mit dickem Moos wie mit einem grünen Pelz. Wo 
der Wald kompakt ist, wie ich ihn vorstehend beschrieben habe, braucht mau 
nur noch den Boden mit dichtem Phryniumgestränch, Amomnm und zwerg- 
haftem Gebüsch zu bepflanzen. Wenn aber, wie es häusig vorkommt, der 
Blitz die Krone eines stolzen Baumes abgeschlagen nnd das Sonnenlicht 
hereingelassen, wenn er einen Waldriesen bis zu den Wurzeln hinab zer- 
splittert und der Stamm verdorrt, wenn ein Wirbelsturm einige Bäume 
entwurzelt hat, dann schießen eine Menge junger Stämme im Wettlauf um 
Luft und Licht in die Höhe, drängen sich, brechen sich, treten sich und er- 
sticken sich gegenseitig, bis das Ganze ein undurchdringliches Dickicht bildet. 
(c. Erdboden, Bewohner.) Um das geistige Bild des nnbarm- 
herzigen Waldes zu vollenden, muß der Erdboden noch dick mit halb- 
fertigem Humus aus vermoderten Blättern, Stielen und Zweigen bedeckt 
sein; alle paar Meter sollte ein gestürzter Riese liegen, eine dünstende 
Mischung von verwesenden Fibern, abgestorbenen Generationen von Insekten 
und lebenden Ameisenkolonien, halb verborgen unter der Masse von Reben 
und umgebeu von dem Blattwerk einer Menge junger Bäumchen, langer 
Efeuranken und viele Meter hoher Rotanpalmen, uud jeden Kilometer 
müßte ein schlammiger Fluß, stagnierender Bach oder flacher Tümpel 
kommen, bedeckt mit Wasserlinsen, Lotos- und Lilienblättern und einem 
fettigen grünen Schaum, der aus Millionen von Pflanzenteilchen besteht
	        
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