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eigentliche Stände, sondern nur Rangstufen unterscheidet. Auch Angehörige der niedersten
Volksschichten gelangen oft zu den höchsten Würden. Ebenso finden Ausländer, wenn sie
zum Islam übertreten, leicht Anstellung im Staatsdienst und werden nicht selten in hohe
Ämter befördert.
Eine wichtige Rolle im Leben des Türken spielt die Religion. Fasten und Beten
sind Hauptstücke des türkischen Gottesdienstes. Der Freitag ist der wöchentliche Feiertag.
Täglich fünfmal fordern die Muezzins oder Ausrufer von den schlanken, mit einem
Halbmonde gezierten Minarets zum Gebet auf. Im Augenblicke, wo der Ruf ertönt,
wäscht sich der Gläubige an Kopf, Händen und Füßen und wirft sich zum Gebet nieder.
Wirtschaftliche Zustände. Die Seite 111 geschilderten Verhältnisse machen
es erklärlich, daß die türkischen Länder wirtschaftlich sehr tief stehen. Dem
Bauern fehlt jeder Antrieb, sich emporzuarbeiten, weil ihm doch die Früchte
seines Fleißes nicht zuteil werden. Gewerbe, Verkehr und Handel erfahren
kaum irgendwelche Unterstützung von der Regierung, stoßen vielmehr überall auf
Hemmnisse. So ist das Land trotz reicher natürlicher Hilfsquellen arm und
verkommen.
Obwohl das Land meist sehr fruchtbaren Boden hat, dient nur ein kleiner Teil, wahr¬
scheinlich nicht mehr als 1/l0 der Landfläche, dem Ackerbau, und die Bewirtschaftung ist
sehr rückständig. Gewöhnlich bleiben die Äcker, wenn sie getragen haben, ein Jahr brach liegen
und werden kaum durch Vieh, das man darauf treibt, gedüngt. Trotzdem erzeugt das
Land große Mengen von Getreide, besonders Mais und Weizen, von letzterem über den
Bedarf hinaus. Wichtig ist ferner der Anbau von Tabak, namentlich in Makedonien,
von Obst und Wein, Flachs und Baumwolle und die Gewinnung von Olivenöl,
Opium und Seide. Von einer geordneten Forstwirtschaft sind kaum Anfänge vor¬
handen, und die Wälder leiden unter greulicher Verwüstung. Der Viehzucht stehen bei
dem geringen Anbau des Landes große Flächen zur Verfügung. Aber auch sie wird
mangelhaft betrieben. Ställe kennt man kaum, und die Tiere sind allen Unbilden der
Witterung ausgesetzt. Man hält meist Schafe und Ziegen. Die sehr grobwolligen Schafe
dienen zugleich der Milchgewinnung und sind die wichtigsten Schlachttiere. Rinder und
Büffel werden hauptsächlich als Zugvieh gehalten. Wolle, Felle und Vieh gelangen auch
zur Ausfuhr. Der Bergbau ist kaum nennenswert, obwohl reiche Erzlager vorhanden
sind. Die Berechtigung zum Abbau von Erzen ist nur schwer zu erlangen, vor allem aber
sind die Abfuhrverhältnisse im Innern des Landes derart trostlos, daß Gruben, die nicht
in der Nähe der Küste oder der wenigen Eisenbahnen liegen, auf keinen Gewinn rechnen
können. Das früher blühende Hausgewerbe, das Teppiche, Seidenstoffe, Waffen, Gold-
und Silberarbeiten liefert, ist zurückgegangen, weil es den Wettbewerb mit den fabrikmäßig
hergestellten westeuropäischen Erzeugnissen nicht mehr aufzunehmen vermag.
Handel und Verkehr sind ebenfalls wenig entwickelt. Die Zahl der Eisenbahnen
ist noch gering (2000 km), die Frachten sind hoch, und auch an Fahrstraßen fehlt es
überall. Dazu kommt die Unsicherheit im Innern des Landes. Kaufleute müssen häufig
mit militärischem Schutze reisen. Das Po st wesen ist in so schlechtem Zustande, daß
Deutschland, Rußland Frankreich und Österreich-Ungarn in den größeren Städten eigene
Postämter errichtet haben. Der Handel mit dem Auslande wird fast ganz von fremden
Kaufleuten besorgt.
Ausgeführt werden hauptsächlich Getreide, Rohseide, Weintrauben, Wolle,
Opium und Teppiche. Die von den türkischen Behörden über den Auslandhandel ver-